Das Flüstern der Stille
ihren durchnässten Sachen stieg. „Ich bin mir nicht sicher. Sie hat ausreichend Gelegenheit zu gehen … und sie kann jederzeit danach fragen.“
„Ich werde ihre Mutter anrufen und ihr empfehlen, mit Calli einen Arzt aufzusuchen, nur um sicherzugehen, dass es sich nicht um eine Blasenentzündung oder Ähnliches handelt“, erwiderte Mrs. White in ihrer kühlen, effizienten Art, die keinen Widerspruch zuließ. „In der Zwischenzeit sollte sie die Toiletten aufsuchen dürfen, wann immer sie will; schick sie einfach aufs Klo, auch wenn sie nicht muss.“
„Gut, aber sie kann immer fragen.“ Miss Monroe drehte sich um und verließ das Krankenzimmer.
Calli trat leise aus der Toilette, in einer pinkfarbenen Jogginghose, die ihr viel zu lang um die Knöchel schlackerte. In einer Hand hielt sie eine Plastiktüte mit ihrer durchweichten Emily-Erdbeer-Unterwäsche, den Jeans, Strümpfen und pink-weißen Turnschuhen. Der Zeigefinger ihrer anderen Hand drehte unbewusst Locken in ihr braunes Haar.
Mrs. White beugte sich zu Calli hinunter. „Hast du Gymnastikschuhe dabei, die du anziehen kannst, Calli?“
Calli schaute auf ihre Füße, die nun in schmuddeligen, aus dem Schulfundus stammenden Tennissocken steckten. Durch die Löcher konnte sie die pfirsichfarbene Haut ihres großen Zehs sehen und den knallroten Nagellack, den ihre Mutter am Abend zuvor auf jeden ihrer kleinen, perlförmigen Fußnägel aufgetragen hatte.
„Calli“, wiederholte Mrs. White, „hast du Gymnastikschuhe, die du anziehen kannst?“
Calli betrachtete Mrs. White, kniff ihre dünnen Lippen zusammen und nickte.
„Okay, Calli.“ Mrs. Whites Stimme nahm einen sanften Ton an. „Zieh deine Schuhe an, und pack die Tüte in deinen Ranzen. Ich werde jetzt deine Mutter anrufen. Nein, du bekommst keine Schwierigkeiten. Ich sehe nur, dass du ein paar Unfälle dieses Jahr hattest, und möchte, dass deine Mom ein Auge darauf hat, okay?“
Aufmerksam betrachtete Mrs. White Callis vom Winter geküsstes Gesicht. Callis Blick war auf den an der weißen Wand hängenden Sehtest mit seinen immer kleiner werdenden Buchstaben gerichtet.
Nachdem ein kleines Team von Erziehern sich getroffen, Calli untersucht und die Ergebnisse ausgewertet hatte, schien körperlich mit ihr alles in Ordnung zu sein. Man diskutierte und debattierte verschiedene Möglichkeiten, und nach einigen Wochen beschloss man, ihr aus der amerikanischen Gebärdensprache das Zeichen für Toilette und andere Schlüsselwörter beizubringen, wöchentliche Treffen mit dem Schulpsychologen anzusetzen und ansonsten geduldig darauf zu warten, dass Calli anfing zu sprechen.
Sie warteten noch immer.
Calli stieg aus dem Bett, nahm vorsichtig ihre neuen Schulsachen und legte alles so auf ihren kleinen Tisch, wie sie es am ersten Tag ihres zweiten Schuljahres im Klassenzimmer auch tun wollte. Große Dinge unten, kleine oben, Stifte und Füller ordentlich in ihrem neuen, grünen Federmäppchen verstaut.
Der Druck auf ihre Blase wurde zum Schmerz, und sie überlegte, ob sie sich in den weißen Papierkorb aus Plastik neben ihrem Schreibtisch erleichtern sollte, aber sie wusste, dass sie ihn nicht sauber machen konnte, ohne dass ihre Mutter oder Ben es bemerkten. Wenn ihre Mutter einen See in ihrem Papierkorb fand, würde sie sich nur wieder darüber aufregen, was bloß in Callis Kopf vorging. Eine endlose Reihe von Fragen wäre die Folge. War jemand im Badezimmer? Konntest du nicht mehr warten? Hast du mit Petra ein Spiel gespielt? Bist du böse auf mich, Calli? Sie überlegte auch, einfach aus dem Fenster ihres im ersten Stock liegenden Zimmers zu klettern und sich am Spalier nach unten zu hangeln, das nun mit weißen Mondblumen überwachsen war, deren Blüten so groß waren wie ihre Hand. Sie verwarf auch diesen Gedanken. Sie wusste nicht genau, wie man das Fliegengitter entfernte, und wenn ihre Mutter sie beim Klettern überraschte, könnte sie auf die Idee kommen, Callis Fenster zuzunageln, und das, wo Calli es so liebte, ihr Fenster nachts offen stehen zu haben. An regnerischen Abenden wollte sie ihre Nase an das Fliegengitter drücken, die Tropfen auf ihren Wangen fühlen und das staubige, sonnenverbrannte Gras riechen, das den fallenden Regen begierig aufsaugte. Calli wollte nicht, dass ihre Mutter sich noch mehr Sorgen machte, sie wollte aber auch nicht die Aufmerksamkeit ihres Vaters auf sich ziehen, wenn sie die Treppe hinunterschlich, um ins Badezimmer zu gelangen.
Langsam öffnete Calli
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