Das Foucaultsche Pendel
vergebens. Wieso vergebens? Wieso machte eine deutsche Templergruppe zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts ein bisher eifersüchtig gehütetes Geheimnis publik, als gälte es, an die Öffentlichkeit zu treten, um auf eine Blockierung des Übermittlungsprozesses zu reagieren?
Niemand konnte leugnen, daß die Manifeste versuchten, die Etappen des Planes zu rekonstruieren, so wie Diotallevi ihn resümiert hatte. Der erste Bruder, auf dessen Tod angespielt wurde, oder auf die Tatsache, daß er an eine Grenze gelangt war, die er »nicht überschreiten« konnte, war Bruder I.O., der in England starb. Also war jemand erfolgreich zum ersten Treffen gekommen. Und es wurde ein zweiter und dritter »Reigen« von Brüdern erwähnt, also eine zweite und dritte Generation oder Nachfolgelinie. Und bis dahin hätte so weit alles nach Plan gelaufen sein müssen: Die zweite Linie, die englische, trifft die dritte, die französische, im Jahre 1584, und Leute, die zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts schreiben, können nur über das sprechen, was den drei ersten Gruppen widerfahren ist. In der Chymischen Hochzeit, die Andreae in seinen Jugendjahren geschrieben hat, also vor den Manifesten (auch wenn sie erst 1616 erscheint), werden drei majestätische Tempel erwähnt: zweifellos die drei Orte, die schon bekannt sein mussten.
Mir schien jedoch, daß die beiden Manifeste zwar in denselben Begriffen davon sprachen, aber so, als hätte sich in der Zwischenzeit etwas Beunruhigendes ereignet.
Wieso zum Beispiel betonten sie dauernd mit solchem Nachdruck, daß die Zeit gekommen und der Moment erreicht sei, obwohl der Feind all seine Listen eingesetzt habe, um zu verhindern, daß die Gelegenheit wahrgenommen werde? Welche Gelegenheit? Es hieß, das Endziel von C. R. sei Jerusalem gewesen, aber er habe es nicht erreichen können. Wieso nicht? Die Araber wurden gelobt, weil sie Erkenntnisse und Erfahrungen untereinander austauschten, während die Gelehrten in Deutschland einander nicht zu helfen wüssten. Und es wurde auf eine größere Gruppe angespielt, die »die Weide allein abfressen« wolle. Hier war nicht mehr nur die Rede von jemandem, der den Plan zu verzerren suchte, um eigene Interessen zu verfolgen, hier ging es um eine effektive Verzerrung.
In der Fama hieß es, zu Anfang habe jemand eine magische Schrift ersonnen (natürlich, die Botschaft von Provins), doch Gottes Uhr schlage alle Minuten, während die unsere »kaum die ganzen Stunden anzeigt«. Wer hatte da die Schläge der göttlichen Uhr verpasst, wer war da nicht imstande gewesen, im rechten Moment an einen bestimmten Punkt zu gelangen? Angespielt wurde auf eine erste Gruppe von Brüdern, die eine geheime Philosophie hätten aufdecken können, aber beschlossen hatten, sich in die Welt zu zerstreuen.
Die Manifeste ließen ein Unbehagen erkennen, eine Ungewissheit, ein Gefühl der Verlorenheit. Die Brüder der ersten Generation hätten dafür gesorgt, daß jeder von ihnen »mit einem tauglichen Successor ersetzt« wurde, aber »sie hatten beschlossen, daß soviel immer möglich ihre Begräbnisse verborgen blieben«, weshalb man heute nicht wisse, »wo ihrer etliche geblieben«.
Worauf spielte das an? Was wusste man nicht? Von welchem »Begräbnis« fehlte die Ortsangabe? Offenkundig waren die Manifeste geschrieben worden, weil irgendeine Information verloren gegangen war und man nun diejenigen suchte, die sie zufällig kannten.
Der Schluss der Fama war unmissverständlich — »Deshalb ersuchen wir abermals alle Gelehrten in Europa... , daß sie mit wohlbedachtem Gemüt dies unser Erbitten erwägen... , die gegenwärtige Zeit mit allem Fleiß besehen und dann ihre Bedenken... uns schriftlich im Druck eröffnen. Denn obwohl weder wir noch unsere Versammlung bisher unsere Namen genannt... , soll keinem, der seinen Namen wird angeben, daraus ein Nachteil erwachsen, wenn er sich mit unsereinem entweder mündlich oder, falls ihm dies je bedenklich erscheint, schriftlich austauscht.«
Genau das war es, was der Oberst im Sinn gehabt hatte, als er seine Geschichte veröffentlichen wollte. Jemanden zwingen, aus dem Schweigen herauszutreten.
Es hatte einen Sprung gegeben, eine Unterbrechung, einen Riss im Maschengewebe. In der Grabkammer des C. R. stand nicht nur geschrieben: Post 120 annos patebo, was an den Rhythmus der Treffen erinnern sollte, es stand dort auch geschrieben: Nequaquam vacuum. Was nicht hieß: »Es gibt kein Vakuum«, sondern: »Es darf kein Vakuum geben.«
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