Das fremde Jahr (German Edition)
für den Tod meines Bruders, ein alltäglicher Tod, der nicht in die Geschichte eingehen wird, ein Tod, der nichts bedeutet, nur ein persönliches Drama ist, für das niemand verantwortlich ist. Ein unbedeutendes Ereignis, das kein Symbol darstellt, mir keine Zugehörigkeit verleiht, mir nicht erlaubt, für irgendetwas einzutreten. Ich fühle mich erbärmlich, fast schuldig, weil ich nicht auf der Seite der Opfer der Geschichte stehe, sondern nur einen Bruder verloren habe, der dummerweise bei einem Mofaunfall ums Leben kam. Also bleibe ich stumm, ich behalte für mich, was niemand mit mir teilen kann, ich bleibe mit Leos Tod allein, und mir fällt ein, was ich während der ersten Wochen nach dem Unfall gehört habe: dass der Schmerz nachlassen wird, dass die Zeit alle Wunden heilt, dass es vor allem für meine Eltern schlimm sein muss, denn ein Kind zu verlieren gehört mit zum Schlimmsten, was einem widerfahren kann, ja, das sagten die Leute, die Verwandten, jene, die es wissen müssen, die Nachbarn, die wir im Treppenhaus trafen, hin und wieder hörte ich Gespräche dieser Art mit, und mein Magen zog sich bei derart grausamen Worten schmerzhaft zusammen. Der Verlust eines Bruders ist ein Klacks, gemessen am Verlust eines Kindes. Und wenn man Leos Unfall erst mit dem Zweiten Weltkrieg vergleicht, den Irrsinn von Adolf Hitler, dem Inhalt von
Mein Kampf
, den Gaskammern, den kahlgeschorenen Frauen, dem Bau der Mauer – wenn man Leos Mofa auf die Waagschale legt, das Mofa, das auf dem feuchten Asphalt ausgerutscht ist, und andererseits die Millionen von Menschenleben, die der Nationalsozialismus gefordert hat, kann man nur müde lächeln. Ich frage mich, ob es unterschiedliche Arten von Schmerz gibt. Für mich ist der Tod kein Held und auch kein Schweinehund, Leos Tod hat keinen Sinn. Es gibt nichts zu erzählen. Folglich kann ich nur schweigen und den Verlust meines kleinen Bruders in aller Stille tragen. Herrn Bergen Französisch reden zu hören tut mir gut, es ist, als könne ich wieder ich selbst werden, meine Fähigkeiten wiederfinden, zu meiner eigenen Geschichte zurückkehren. Meine Kräfte kehren zurück, etwas in mir entspannt sich, nachdem ich mich verkrampft hatte, das Blut, das wieder durch meine Adern zu fließen beginnt, gibt mir das Gefühl für Nuancen und zum Widerstand zurück. Ich muss nicht lange nach Worten suchen, als Herr Bergen mir vorschlägt, die Nacht oben in seinem Schlafzimmer zu verbringen, ich weiß, was ich zu antworten habe, als er sagt, ich solle neben ihm im Elternschlafzimmer schlafen. Vor einigen Tagen hatte ich noch Angst, eine andere zu werden, Frau Bergens Platz einzunehmen und in ihre Haut zu schlüpfen, ich hatte befürchtet, in einen Zustand zu gleiten, aus dem es keine Umkehr gibt. An diesem Abend aber fühle ich mich endlich frei und kann klar und deutlich sprechen. Ich bitte Herrn Bergen auf Französisch, mein Zimmer zu verlassen, ich stehe aufrecht vor ihm, mit einem ganz neuen Selbstwertgefühl. Nichts ist mehr kompliziert, ich fordere ihn auf, mich allein zu lassen. Und die schlichte Tatsache, dass ich die Sprache wiedergefunden habe, dass endlich wieder Laute aus meinem Mund kommen, ist richtig befreiend. Ich werde meine Abreise um einige Tage vorverlegen, Thomas und Nina ein letztes Mal in die Arme schließen. Ich hoffe, dass das Leben nachsichtig mit ihnen sein wird. Sie werden mir fehlen.
Ende
Über Brigitte Giraud
Brigitte Giraud wurde 1960 in Sidi Bel-Abbès (Algerien) geboren. Sie studierte Deutsch und Englisch und arbeitete als Buchhändlerin unter anderem in Lübeck. Sie lebt seit langem in Lyon, wo sie ein Literaturfestival organisiert. Außerdem gibt sie bei ihrem Pariser Verlag Editions Stock eine Literaturreihe heraus. Brigitte Giraud hat mehrere Romane veröffentlicht, zuletzt erschien bei Fischer der Erzählband »Die Liebe ist doch sehr überschätzt«.
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Impressum
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Coverabbildung: Mauritius Images/ AGE
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400930-8
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