Das fremde Jahr (German Edition)
Es beginnt in der Kälte eines deutschen Winters. Ich steige nach einer Reise von über tausend Kilometern aus dem Zug. Frau Bergen erwartet mich am Ende des Bahnsteigs. Groß, ernst und schön. Unser erster Wortwechsel ist kurz und vage. Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles verstehe, was sie sagt. Aber ich nicke, um meinen guten Willen zu bekunden. Ich weiß nicht genau, warum ich hier bin. Was ich hinter mir lasse, lässt sich nicht in wenigen Worten zusammenfassen. Sagen wir der Einfachheit halber, dass es offiziell darum geht, mein Deutsch zu verbessern, das am Gymnasium meine erste Fremdsprache war. Ich bin gekommen, um zu lernen. Also verlieren wir keine Zeit! Ich bin damit einverstanden. Und ich lerne vom ersten Augenblick an, obwohl ich todmüde bin. Ich lerne, dass man nicht mit Turnschuhen auf Glatteis gehen kann. Ich lerne, dass ich trotz der vier Deutschstunden pro Woche über mehrere Jahre hinweg keinen einzigen kompletten Satz verstehe. Ich verstaue mein Gepäck hinten im Wagen, einem VW -Bus. Ich puste auf meine klammen Finger. Seit vierundzwanzig Stunden habe ich nicht geschlafen, aber ich bin jung und voller Ressourcen, wie meine Eltern immer sagen. Schauplatz des Geschehens ist eine Hafenstadt an der Ostsee. Ich bin vor kurzem siebzehn geworden.
Frau Bergen fährt langsam. Ich bemühe mich, nicht einzuschlafen. Sie stellt mir eine Frage, von der ich nur das Wort »Supermarkt« verstehe. Ich klammere mich an dieses Wort und nicke. Aber es ist nicht wirklich eine Frage, sondern eher eine Information. Und selbst wenn ich etwas dagegen hätte, würde mir das nötige Vokabular fehlen, um klar und deutlich zu sagen, ohne dass es abweisend klingen würde, dass ich nur eines möchte: schlafen. Frau Bergen wundert sich, dass ich nichts über die Landschaft sage; wir fahren über einen Fluss, dessen Namen sie mir nennt, und ich sage »Das ist sehr schön«. Ich weiß nicht, ob es wirklich schön ist, wage aber nicht, stumm zu bleiben. Es ist vor allem sehr weit weg von zu Hause. Und sehr weiß ist es auch – die Gehsteige, die Bäume und der Himmel. Wir fahren an einem Frachthafen entlang. Frau Bergen erklärt mir einige Dinge und lässt das Lenkrad los. Ich glaube, dass sie von Konservenfabriken erzählt, in denen ein Verwandter von ihr arbeitet, aber sicher bin ich mir nicht. Ich reime mir nur zusammen, dass es sich vielleicht um einen Bruder handelt, der Heringe in Konservendosen einfüllt. Es könnte sich aber auch um ihren Ehemann handeln oder um den Bruder ihres Mannes. Wir fahren eine schmale Straße hinauf und halten dann auf dem fast leeren Parkplatz eines Supermarkts an.
Frau Bergen kauft einige Scheiben Leber für das Abendessen, nachdem sie mich gefragt hat, ob ich Leber mag. Natürlich, ich nicke wieder und lächle, um meine aufkommende Unsicherheit zu überspielen. Ich befürchte, dass ich meine Entscheidung, hierherzukommen, bereuen könnte, wenn ich nachher Leber esse mit einer Familie, die ich gar nicht kenne, viele Zugstunden entfernt von der Familie, die ich kenne. Wir gehen zur Kasse, und ich trage einen Beutel mit Kartoffeln und ein Roggenbrot. Es ist erst drei Uhr nachmittags, doch es wird bereits dunkel. Frau Bergen freut sich schon darauf, mir ihre Kinder vorzustellen, die zu Hause auf uns warten: Thomas und Nina, vierzehn und neun, das stand auf dem Infobogen, den ich erhielt, ehe ich mich für diese Stelle entschied. Ich habe etwas gezögert, als ich das Alter des Jungen las, dann aber beschlossen, dass das nichts ändern würde.
Ich hatte nicht darauf geachtet, dass das Haus außerhalb der Stadt liegt. Wir nehmen eine Schnellstraße und fahren ungefähr zwanzig Minuten lang im Dunkeln an einem verschneiten Wald entlang. Frau Bergen schaltet das Radio ein und erzählt mir vom Ausgang der letzten Wahlen. Ich weiß nicht, um welche Wahlen es sich handelt, nehme mir aber vor, gleich am nächsten Tag eine Zeitung zu kaufen, um über die Einzelheiten meines neuen deutschen Lebens auf dem Laufenden zu sein. Die Scheibenwischer und Scheinwerfer sind eingeschaltet, als wir über eine nassglänzende Straße fahren, und ich erahne, was den Norden vom Süden trennt. Vor einer großen Villa, die alleine in der Nähe der Eisenbahnschienen steht, halten wir an. Ein Hund stemmt mir seine Pfoten auf die Hüften, schnuppert an meinen Schuhen und an meinem Gepäck, während die Kinder vor dem Fernseher sitzen bleiben. Ich stehe im Eingangsbereich, mit nassen Füßen, und kann vor
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