Halva, meine Sueße
Ein Wintermorgen in Teheran
2002
»Was für ein verrücktes Land, in dem man sich drinnen freier
fühlt als draußen an der frischen Luft. Wir führen ein
Leben zwischen zwei Welten!«, sagte Mamii, als sie ihrer
Tochter Raya die Tür öffnete und sie zusammen mit Halva
und Mudi hineinließ.
Halva trat über die dunkelrote Schwelle des Hauses ihrer
Großmutter. Bei Mamiis lang zurückliegender Hochzeitsfeier
war ein Widder geschächtet worden, dessen Blut den
Hauseingang getränkt hatte.
Mamii schloss die Tür hinter ihnen und schob den Riegel
vor. »Wir haben Glück. Sowohl Strom als auch Wasser sind
gerade wiedergekommen.«
Halva sah sich um, als sie aus ihren Schuhen schlüpfte
und die Socken auszog. Sie lief am liebsten barfuß. Durch
die Stuckdecke der Eingangshalle sprangen Risse vom letzten
Erdbeben – laut den Männern, die im Iran bestimmten,
waren nur der Ungehorsam und das unmoralische Verhalten der Bevölkerung an den Erdbeben schuld. Von den Säulen
bröckelte der Putz und in dem Mosaik des leeren Brunnens
in der Mitte fehlten etliche bunte Steine. Als Mudi seine
Schuhe auszog, ragte sein großer Zeh aus der linken Socke.
Halva unterdrückte ein Kichern, als er ungeschickt die Wolle
um seinen großen Onkel wickelte und ihr dann voranhumpelte.
»Seid ihr ohne Probleme hergekommen?«, fragte die Großmutter,
während sie ihren Mantel und das eng gewickelte
Kopftuch abstreifte. Frauen durften sich im Iran in der Öffentlichkeit
nicht unverhüllt zeigen, und obwohl Mamii nur
kurz über die Schwelle getreten war, hatte sie sich zur Sicherheit
umgezogen. Nun strich sie sich das volle grau melierte
Haar zurecht. Halva hatte ihre dichten schwarzen Haare, die
ihr lang und offen über die Schultern fielen, von ihrer Großmutter
geerbt.
»Ja. Wir mussten nur einmal warten«, antwortete Halvas
Mutter und legte ebenfalls ihr Kopftuch ab. »Drei Offiziere
haben einen Wagen mit zwei jungen Leuten darin kontrolliert.
«
»Und? Waren sie ein Liebespaar?«, wollte Mamii wissen.
»Anscheinend nicht. Wohl eher Bruder und Schwester. Was den Polizisten nicht gepasst hat. Die hätten sich das Bußgeld sicher gerne eingesteckt, um ihre eigene Miete zu bezahlen!«
Mamii ging ihnen voran. Der altmodische Schnitt ihres
bodenlangen, geblümten Kleides, das bei jedem Schritt um
ihre Beine schwang, konnte nicht verbergen, wie teuer es
einmal gewesen war.
Raya und die Kinder folgten ihr in einen kleinen Raum, auf dessen Regalen früher unzählige Bücher gestanden hatten.
Heute waren die Wände kahl. Es war kalt und roch
staubig und das bunte Glas der Fenster filterte den kühlen
Glanz des Januarschnees.
Doch, ja, Tausende von Büchern waren es gewesen, schwor
Raya, wenn sie Halva von ihrer eigenen Kindheit erzählte.
Tausende, bis Mamii und Halvas Großvater die Bücher in
einer warmen Herbstnacht vor mehr als dreißig Jahren verbrannt
hatten. Nach der islamischen Revolution und dem
Sturz des Schahs – Halva kannte sein Gesicht nur von ausgeblichenen
Fotos – kamen die Mullahs an die Macht. Offen
zur Schau getragenes Interesse an westlicher Literatur war
nicht empfehlenswert. Halvas Großvater war trotzdem abgeholt
und im Gefängnis erschossen worden. Warum, wusste
Halva nicht. Mamii hatte nie darüber geredet.
»Jetzt ist es also so weit, Raya«, sagte Mamii rau. Sie setzte
sich auf eines der Kissen rund um den niedrigen Tisch,
auf dem in kleinen silbernen Schalen Pistazien, Datteln und
Schokolade auf die Besucher warteten. Halva ahmte die Art
ihrer Großmutter zu sitzen nach. Sie betrachtete die Naschereien
hungrig, aber rührte nichts an, da Mamii sie noch
nicht dazu aufgefordert hatte. Zum Glück hatte sie in ihrer
eigenen Wohnung noch von ihrem geheimen Vorrat an
Pofak
Namaki,
einer Art Käsechips, genascht.
»Das ging schneller als erwartet«, fügte Mamii nach einer
kurzen Pause hinzu.
Raya nickte. »Ja, Cyrus kennt jemanden, der uns helfen
konnte. Einer seiner Freunde beim Militär. Du weißt schon,
Bijan. Der, der vier Söhne hat.« Auch ihre Stimme klang
belegt.
»Bijan? Ist das nicht der, der ihm auch aus dem Gefängnis
geholfen hat?«
Raya nickte nur.
»Ah ja. Und neben den vier Söhnen hat dieser Bijan auch
eine Frau, die Schmuck liebt, wie ich sehe«, sagte Mamii und
deutete auf Rayas blanken Ringfinger. Nur ein weißer Streifen
Haut verriet, dass dort vor einigen Tagen noch der große
Diamantring aus Mamiis Familie geglitzert hatte. Halva
hätte ihn einmal erben sollen.
Raya zuckte nur mit den
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