Das fremde Jahr (German Edition)
Angst hat, sich gefühlsmäßig zu stark an mich zu binden, da ich bald abreise, kommt jeden Tag erst am späten Nachmittag nach Hause, meist mit Andreas, und die beiden Jungen schließen sich in Thomas’ Zimmer ein. Nina geht fast jeden Tag zur Schule, aber wenn sie zu Hause ist und ich sie beschäftigen muss, vergehen die Stunden nur langsam. Meistens sitzt sie am Wohnzimmertisch und malt, oder sie schaut fern. Manchmal malen wir zusammen mit Wasserfarben. Ich beginne, ihr Französisch beizubringen. Wenn Thomas da ist, lernen wir zu dritt. Das sind die schönsten Momente, die wir zusammen verbringen, wenn die beiden Kinder wiederholen, was ich ihnen vorsage, mehrere Silben hintereinander, kurze Sätze, und ihr Akzent amüsiert mich. Ich werde ungewollt zum Stützpfeiler der Familie, werde in Beschlag genommen, bin unverzichtbar. Ohne dass mich jemand darum gebeten hätte.
Am Wochenende fahren wir zu Frau Bergen. Das Sanatorium, in dem sie untergebracht ist, liegt fast eine Autostunde von hier entfernt, ich sitze im Wagen auf ihrem Platz, und das ist ein komisches Gefühl. Ich bin es, die die Landkarte hält und Herrn Bergen sagt, wann er abbiegen muss. Frau Bergen ist blass und bleibt im Bett liegen, doch es scheint ihr ganz gut zu gehen, ihre Müdigkeit ist offenbar normal und nur vorübergehender Natur. Ich wage nicht, an die Brust zu denken, die unter ihrem Nachthemd fehlt, doch ich kann es nicht verhindern, ich denke auch daran, als ich mit ihr rede. Die Kinder sagen ein paar Worte auf Französisch, um ihr eine Freude zu machen, woraufhin Frau Bergen lächelt. Den Satz: »C’est bientôt l’été« – bald ist Sommer, sprechen sie perfekt aus.
Herrn Bergens Whiskykonsum steigt an. Ich gehe nur selten in die Stadt, weil es im Haus so viel zu tun gibt, ich gehe nicht mehr in die Stadtbücherei, wo ich ohnehin niemanden treffen würde, manchmal schlendere ich durch die Straßen des Zentrums und tue so, als interessierte ich mich für die Schaufenster. Ich lese nicht mehr, weder Thomas Mann noch
Mein Kampf
. Denn eine andere Geschichte beansprucht mich ganz und gar, jene, die sich inzwischen jeden Abend wiederholt, sobald die Kinder im Bett und die Lichter im oberen Flur gelöscht sind, der Hund in der Küche in seinem Körbchen liegt, sobald uns nichts mehr stören kann.
Als Herr Bergen erneut an meine Tür klopft, wenige Tage nach dem ersten Abend, verstehe ich nicht, was vor sich geht. Es ist, als würde ein Fremder in mein Territorium eindringen, der Mann, der vor mir steht, hat nichts mit
dem
Herrn Bergen zu tun, wie ich ihn tagsüber kenne, diskret und besonnen, zuvorkommend und aufmerksam, aber distanziert. Nein, der Mann, der es wagt, nach elf Uhr abends über die Schwelle meines Zimmers zu treten, ist ein ganz anderer, mir unbekannter Mensch, mit einem ganz anderen Gesichtsausdruck und Blick, der sich durch eine sonderbare Abwesenheit auszeichnet. Der Mann, der mich fragt, ob er auch nicht stört, ist ein Mann, der allem Anschein nach nicht mehr unterscheiden kann, was real ist und was nicht, was möglich ist und was nicht; er bewegt sich wie ein Automat, wie jemand, der sich von nichts aufhalten lässt, nach außen hin schwach, aber auch schrecklich entschlossen wirkt. Dieser Mann, zweifellos mit Whisky zugeschüttet, lächelt, als er mich betrachtet, oder besser gesagt, er verzieht das Gesicht und fixiert einen Punkt zwischen meinen beiden Augen oder ein Detail der Tapete hinter mir, er schwankt nur leicht, als er nun vor mir steht und mir sagt, dass er mich braucht. Und das verstehe ich perfekt, wie inzwischen viele Sätze. »Ich brauche dich«, ein Verb, das ich mag, genauso wie die englische Entsprechung: »I need you.« Ja, ich liebe dieses Verb, ich kann nicht sagen, warum, vielleicht weil es direkt ist, nicht indirekt wie im Französischen, wo es einen zu einem gekünstelten und bedachtsamen Umweg zwingt: J’ai besoin de toi – Ich habe Bedürfnis nach dir. Nachdem Herr Bergen die drei Worte »ich brauche dich« ausgesprochen hat, bleibt er weiterhin vor mir stehen, und ich habe den Eindruck, dass er wartet, ich weiß nicht genau, worauf. Jedenfalls begnügt er sich nicht mit meiner Wachsgestalt in fünfzig Zentimeter Abstand, die steif und starr bleibt, nein, er kommt noch näher, so nah, dass ich seinen Nikotinatem riechen kann, obwohl er gut einen Kopf größer ist als ich, und als er nun in meinem kleinen Zimmer steht, massig und ungelenk, muss ich an den Film
Frankenstein
denken,
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