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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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letzter Versuch.«
    Die Sonne zieht sich in einer Geschwindigkeit hinter den Berg zurück, als vergeudete sie hier nur ihre Zeit. Eine letzte Lichtschneise ist am Fels zu sehen, ein spitzwinkeliges Dreieck. Im selben Augenblick, in dem es verschwindet, ist es dem Gefühl nach einige Grade kälter als zuvor.
    Meine Mutter ist still geworden, ihr Organismus ist allein damit beschäftigt, voranzukommen. Auch wenn sie nicht mehr die Kämpferin ist, die sie einmal war, geht es ihr immer noch gegen den Strich, aufzugeben. Obwohl ich förmlich zu spüren glaube, wie ihre verkümmerte Muskulatur zittert und ihr Herz bebt wie ein Tier, das mit einer Peitsche angetrieben wird, geht von ihr die Ruhe eines Menschen aus, dem es für die Dauer einer intensiven körperlichen Betätigung gelungen ist, dem drängenden Fluss der Gedanken durch den Kopf Einhalt zu gebieten.
    Wir haben mehr als die Hälfte der Strecke hinter uns, als sie stehen bleibt und sich ans Geländer lehnt. Der Blick, der sich ihr bietet, ist unspektakulär. Dächer und Dachterrassen, die mit Schnee bedeckt, Fenster, die geschlossen und großteils verschmutzt sind. Autos, die vor der Einfahrt zu einer Tiefgarage in einer Schlange stehen, ohne dass auch nur ein ungeduldiges Hupen ertönt. Wären wir die Stiege auf der anderen Seite des Berges hinaufgegangen, hätten wir auf gleicher Höhe einen Überblick über die Altstadt, den Fluss und den zweiten Stadtberg gehabt. So aber kommt es mir vor, als hätten wir ein Zimmer in einem noblen Hotel gebucht, dem wir uns jedoch nur über den Hintereingang nähern dürfen.
    Meine Mutter streckt die Zunge heraus. »Anstrengend.«
    Gemeinsam sehen wir dem nebeligen Aufruhr zu, den unser warmer Atem in der kalten Luft verursacht.
    »Weißt du, wann man sicher weiß, dass man alt ist?« In der Art, wie sie es ausspricht, könnte die Frage ebenso gut an den Schnee auf den Dächern gerichtet sein wie an mich.
    »Wann?«
    »Wenn man vor dem Fernseher sitzt und feststellen muss, dass immer mehr Schauspieler, für die man früher geschwärmt hat, tot sind. Weil dann irgendwie ein Teil der eigenen Jugend tot ist.«
    »Wie kommst du jetzt darauf?«
    »Nur so.«
    »Weil du jetzt bei dem Weg herauf beinah gestorben wärst?«
    Sie setzt zu einem Lachen an, ist jedoch zu erschöpft dazu, es zu Ende bringen, bricht ab.
    Etwas Unglaubliches kommt mir über die Lippen, etwas, das ich noch niemandem anvertraut habe. Ich muss mich selbst erst an den Gedanken gewöhnen.
    »Ich spüre auch schon, wie ich älter werde.«
    »Du?« Sie sieht mich von der Seite an. »Soll das ein Witz sein? Du bist jetzt Mitte dreißig, aber du siehst aus wie Anfang dreißig. Höchstens. Hast noch keine Falten. Keinen Bauch. Dichtes Haar. Männer mit Glatze sehen automatisch älter aus.«
    »Danke, Mama, aber das ist nicht der Punkt.«
    »Was dann?«
    »Dass man ab einem bestimmten Punkt das Gefühl hat, dass nichts Großartiges mehr nachkommt. Dass man seine Chance vielleicht nicht genutzt hat.« Dass man die Wohnung zu vernachlässigen beginnt, weil es keinen nennenswerten Grund gibt, sie sauber zu halten. Dass man sich am Anfang jeder Beziehung fragt, wie lange sie wohl dauern wird. Dass man leidenschaftslos in Bewerbungsgespräche geht, weil man im Voraus weiß, dass es sich um einen Job handelt, der einen zwar ernähren, aber nicht erfüllen wird. Dass sich ein grauer Schleier über das eigene Leben legt, der schlimmer ist, als es die Entdeckung der ersten grauen Haare je sein könnte.
    »Hör mal: Du wirst dir das, was ich dir vorhalte, doch nicht plötzlich zu Herzen nehmen. Da wäre ich ja schön enttäuscht von dir.«
    Sie tut so, als nähme sie mich nicht ernst, aber ich merke sofort, wie die Besorgnis in ihr hochsteigt. Die Besorgnis darüber, dass mit einem Mal Wirklichkeit wird, was sie mir seit geraumer Zeit prophezeit: dass ich scheitere, mein Leben verpfusche, wenn ich es nicht von Grund auf ändere.
    »Mir ist kalt. Ich habe genug für heute. Gehen wir nachhause.«
    Auf dem Weg nach unten hält sie sich mit einer Hand am Geländer fest, die andere ruht in meiner Armbeuge. Fast scheint es so, als wollte sie mir in all ihrer Schlotterigkeit und körperlichen Schwäche Halt geben, nicht umgekehrt. Abgesehen davon, dass das absurd ist, ist es dafür wohl auch zu spät.
    »Ich weiß nicht, ob das klug ist, dass du dich an mir festhältst. Wenn einer von uns beiden ausrutscht, reißt er den anderen gleich mit ins Unglück.«
    »Mitgehangen, mitgefangen«,

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