Das fuenfunddreißigste Jahr
Der Polarschwimmer
Das kalte Wasser trifft mich wie ein Schlag – anstatt mich wachzurütteln, betäubt es mich beinah. Die nachmittägliche Wechseldusche soll mich von meiner Müdigkeit befreien, dem manchmal geradezu unstillbaren Bedürfnis, mich hinzulegen und die Zeit am helllichten Tag schlafend vergehen zu lassen. Mir wird schwindlig, als das Wasser sich über meinen Kopf und Nacken ergießt. Die roten und blauen Kunststoffwellen des Duschvorhangs verschwimmen für Momente zu einem Irrlicht. Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht am Vorhang festhalte und ihn aus seiner Verankerung reiße. Da ich weiß, dass diese Betäubung wieder vergeht, drehe ich das Wasser nicht ab, sondern nehme den Duschkopf in die Hand, damit alle Teile meines Körpers unmittelbar mit dem Wasser in Berührung kommen, das wie ein auf wenige Zentimeter begrenzter, heftiger Platzregen aus dem Duschkopf hervorschießt. Das geht jedoch nicht so koordiniert vor sich, wie es sich anhört, sondern chaotisch. Ich weiß genau, was zu tun ist, welche Wirkung ich zu erwarten habe, aber der Stress, mit dem sich mein Organismus konfrontiert sieht, lässt meine Handlungen improvisiert ausfallen, geradezu stümperhaft. Das Atmen fällt mir schwer, ich japse nach Luft, stoße kurze Laute aus, weil Sprache mir beim Atmen hilft und auch dabei, mich aufzubäumen. Das ist keine Übertreibung. Die andauernde Müdigkeit zwingt mich zu Boden, drückt meine Lider zusammen und bringt mich dazu, in Anwesenheit meiner Kollegen im Büro ständig zu gähnen und mir die Augen zu reiben. Sie verstopft alle Kanäle, die mich mit der Außenwelt effizient kommunizieren lassen, lässt mich unkonzentriert und abwesend wirken, irgendwie fehl am Platz. Vielleicht wäre es anders, wenn ich zwanzig Jahre älter wäre. Aber mit Mitte dreißig erscheint diese hartnäckige Erschöpfung und Antriebslosigkeit wie eine persönliche Niederlage – etwas, das ich selbst heraufbeschworen habe, sei es durch meinen Lebenswandel, meine Ernährung oder meinen Mangel an Ambition.
Der Fernseher erhellt den Raum mit einer eisigen Materialschlacht, in deren windumtoster Starre ein halbnackter, gleichzeitig zerbrechlich und hochkonzentriert wirkender Mann sich seiner Aufgabe stellt. Der Mann trägt eine dunkelblaue Badehose, eine schwarze Schwimmbrille und eine weiße Badehaube, die an den Seiten mit der britischen Flagge versehen ist. Was er sich vorgenommen hat, geschieht nicht nur in seinem Namen, auch nicht in dem der englischen Channel Swimming Association, deren Regeln das Tragen eines Neoprenanzugs beim Schwimmen verbieten, gleich, wie gering die Wassertemperatur auch sein mag. Der Mann, der als erster Mensch den Versuch unternimmt, den geografischen Nordpol auf einer Strecke von einem Kilometer zu durchschwimmen, ist weniger ein Extremsportler als ein Nachfahre von Entdeckern wie Livingstone und Shackleton. Wenn er mit seinen gleichmäßigen Kraulbewegungen das Wasser durchmisst, kommt die sportliche einer zivilisationsgeschichtlichen Leistung gleich, an deren Ende heutzutage ein Eintrag in die Geschichtsbücher oder ins Guinnessbuch der Rekorde steht, keine Ausdehnung kolonialer Landnahme.
Die Kamera zoomt auf den von der Kälte rot angelaufenen Körper des Schwimmers, seine Fleischlichkeit nimmt den Bildschirm in Beschlag, sodass die Eisschollen im Hintergrund wie eine imposante Dekoration wirken. Entfernt sich der Schwimmer aus der Bildmitte, driftet er in den Hintergrund und wird ein in dieser Umgebung weicher, ungeschützter und qualvoll unvollkommener Teil des arktischen Kälteensembles. Sein Anblick könnte einem grobkörnigen Philosophen als Beweismaterial für die Geringfügigkeit des Menschen angesichts des natürlichen Ganzen oder des Universums dienen. Er mutet wie eine potenzielle Beute für Raubtiere an – und tatsächlich schützen Wachen mit Gewehren die Vorbereitungen der Crew vor hungrigen Eisbären.
Es ist bei weitem nicht der erste Rekordversuch, den sich der Schwimmer, der ein Jahr jünger ist als ich, vorgenommen und erfolgreich durchgeführt hat. 2006 schwamm er als erster Mensch die Themse der Länge nach ab. Er benötigte für die 325 Kilometer 21 Tage und wollte nicht nur einen Rekord aufstellen, sondern auch auf die zahlreichen niederschlagsarmen Trockenperioden aufmerksam machen, die England seit einiger Zeit heimsuchen. Da die Themse zu wenig Wasser führte, war er gezwungen, die ersten 42 Kilometer des Flusslaufs zu Fuß zurückzulegen. Auch der
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