Das Geflecht
ein Krankenzimmer, dessen Geruch verriet, dass es ein geöffnetes Fenster zum Innenhof besaß, wo zahllose Hortensien blühten.
«Hey!», grüßte Justin, als sie eintraten.
«Hallo Justin! Dürfen wir kurz unterbrechen, Frau Frey?», fragte Tia, die das Parfüm der Journalistin erkannte.
Carolin lachte verlegen. «Hallo Frau Traveen! Natürlich dürfen Sie.»
Tia wollte eben etwas sagen, als rasche Schritte auf sie zukamen und jemand sie stürmisch in die Arme schloss.
«Schön, dass Sie da sind!», flüsterte Dana.
Tia erwiderte die Umarmung und strich dem Mädchen über das lockige Haar. Sie bemerkte, dass Dana den linken Arm in einer Fixierungsbinde trug. Das ausgekugelte Gelenk hatte Tia ihr zwar nach allen Regeln der Kunst wieder eingerenkt, aber eine vorbeugende Operation war nötig gewesen, um Rückfälle zu verhindern.
«Na? Und wie geht es Ihnen?», wandte sich Leon dem Kranken zu.
«Schon viel besser.» Justins Stimme klang frisch und ausgeruht. «Doktor Trondheim sagt, dass sie mich nächsten Montag rauslassen, wenn die Blutwerte in Ordnung sind.»
«Wunderbar!» Tia ließ sich von Dana zum Bett führen und setzte sich neben ihr ans Kopfende. «Keine Spur mehr von dem Pilz?»
«Nein. Aber ich werde trotzdem noch tagelang dieses scheußliche Zeug schlucken müssen», klagte Justin. «Dabei geht’s mir doch schon viel besser! Wozu immer noch diese Tabletten?»
«Zur Sicherheit!», sagte eine freundliche Männerstimme.
Tia hörte die Tür klappen und erkannte den Geruch des Arztes, der eben das Zimmer betrat. «Oh, Sie haben Besuch. Komme ich ungelegen?»
«Im Gegenteil», ermunterte ihn Leon. «Die kleine Schicksalsgemeinschaft ist gerade vollzählig versammelt.»
«Ach, sieh an!» Doktor Trondheim grüßte in die Runde. «Wie schön. Ich habe nämlich die Befunde aus dem Labor bekommen.»
«Lassen Sie hören!», bat Tia.
Der Arzt setzte sich auf einen freien Stuhl und blätterte in seinem Bericht.
«Zunächst einmal kann ich Sie alle beruhigen», begann er. «Die Strahlenbelastung, der Sie ausgesetzt waren, betrug nach unseren Untersuchungen etwa null Komma null fünf Sievert. Das liegt zwar deutlich über den zugelassenen Grenzwerten – selbst für Personen, die einer beruflichen Mehrbelastung ausgesetzt sind, zum Beispiel Wartungspersonal in Kernkraftwerken. Aber zwischen zugelassenen und nachweisbar schädlichen Werten besteht zum Glück eine Sicherheitsspanne. Keiner von ihnen zeigt Symptome einer Strahlenkrankheit, die Blutbilder sind allesamt in Ordnung. Wir werden Sie sicherheitshalber noch ein paar Mal zur Nachuntersuchung einbestellen, aberes ist nicht anzunehmen, dass irgendjemand von Ihnen akute Strahlenschäden entwickelt.»
Alle schwiegen eine Weile.
«Puh», machte Leon schließlich. «Das ist ja einigermaßen glimpflich ausgegangen. Null Komma null fünf, sagen Sie?»
«Ein klein wenig mehr bei Frau Novak.» Der Arzt schlug eine Seite seiner Akte um. «Das liegt wohl daran, dass sie sich am längsten in dieser Höhle aufgehalten hat.»
«Werde ich …», Danas Stimme klang sehr schwach, «… Kinder bekommen können?»
«Aber ja», beruhigte sie Doktor Trondheim. «Unfruchtbarkeit tritt erst bei viel höheren Strahlendosen ein.»
«Was ist mit dem Krebsrisiko?», fragte Leon.
Der Arzt seufzte. «Wir können darüber keine sicheren Aussagen machen. Es ist bis heute umstritten, ob Bestrahlungen in diesem Dosisbereich langfristige Auswirkungen haben. Wir können uns nur auf Statistiken verlassen, und deren Aussagekraft ist bekanntlich zweifelhaft …»
«Machen Sie’s kurz», bat Justin.
«Also, theoretisch besteht für Sie alle ein geringfügig erhöhtes Risiko, irgendwann im Leben Leukämie oder Schilddrüsenkrebs zu entwickeln. Ich wiederhole:
theoretisch
. Wir haben jede erdenkliche Sicherheitsmaßnahme ergriffen. Ihre Kleidung wurde vernichtet, Sie haben Jodtabletten bekommen, Vitaminpräparate zum beschleunigten Blutaufbau und eine Begleittherapie zur Stärkung des Immunsystems. Ich gehe davon aus …» Der Arzt zögerte einen Moment, und man merkte ihm an, dass er seine Worte sorgfältig wählte. «… dass das Risiko nahezu bei null liegt. Natürlich kann ich nichts versprechen. Vorsichtshalber würde ich Ihnen anraten, sich alle zwei Jahre einer sorgfältigen Untersuchung zu unterziehen.»
Leon seufzte, doch es klang hörbar erleichtert. «Okay.»
«Eigentlich erstaunlich, dass die Strahlenbelastung so gering war», fand Tia. «Ich hatte
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