Das Geflecht
Sachen?»
Tia antwortete nicht, sondern schluchzte leise an seinem Hals. Einen Moment lang fragte sich Carolin, ob sie womöglich taktlos war, dann aber erinnerte sie sich an ihre Profession und drückte den Auslöser. Augenblicklich hob Tia den Kopf, wandte ihn suchend hin und her und wischte sich wie ein Kind mit dem Ärmel über die Augen.
«Frau Frey?»
«Hier!», antwortete Carolin.
Tia kam näher, wobei sie ihren Vater an der Hand mit sich zog.
«Vorsicht, hier ist …»
«… ein Zaun, ich weiß», nickte Tia, die die Absperrung bereits ertastet hatte. «Dass Sie immer noch hier sind, hätte ich nicht erwartet! Haben Sie sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen?»
«Ja, zusammen mit Ihrem Vater.» Carolin lächelte. «Er ist übrigens sehr nett. Wir haben uns hervorragend verstanden.»
«Frau Frey ist zu bescheiden», warf Traveen ein. «Sie war es nämlich, die herausgefunden hat, dass mit diesem Böttcher etwas nicht stimmt. Und das war auch der Grund, warum das Mädchen plötzlich in den Stollen zurückwollte – glaubte wohl, sie könnte helfen.»
«Das hat sie», bestätigte Tia ernst. «Ohne Dana hätte die Sache übel ausgehen können. Tja, Frau Frey, dann habe ich Ihnen wohl einiges zu verdanken! Ihre Warnung hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet.»
«Vielleicht revanchieren Sie sich, indem Sie mir beizeiten ein Interview geben?», schlug Carolin vor.
«Wir werden sehen», sagte Tia düster. «Ich hoffe, wir haben noch genug Zeit dazu. Erst einmal wird man uns alle ins Krankenhaus stecken – und dann wird sich herausstellen, wie schlimm es um uns steht.»
«Sag doch nicht so was!» Traveen packte seine Tochter erneut und drückte sie an sich.
Tia erwiderte seinen Druck.
«Hoffen wir das Beste», flüsterte sie. «Für mich und für die anderen.»
Carolin verdrängte ihre Rührung, schoss ein letztes Foto und formulierte in Gedanken bereits den Zeitungsartikel. Tias Worte gehörten eindeutig an den Schluss. Dass ein weitererArtikel von der glücklichen Genesung aller Beteiligten handeln würde, war in der Tat zu hoffen – und nicht nur um der Auflage der Zeitung willen.
EPILOG
Zehn Tage später
••• TIA •••
Die Eingangshalle der Universitätsklinik verströmte den für Krankenhäuser typischen Geruch: eine Mischung aus Propanol, Schmierseife und Wasserstoffperoxid. Mittlerweile war Tia oft genug hier gewesen und hätte ihren Weg auch allein gefunden. Sie selbst und Leon waren nach drei Tagen entlassen worden, aber sie kamen beinahe täglich wieder, um die anderen zu besuchen. Vor der Treppe brauchte Leon seine Partnerin nicht mehr zu warnen, und auch die Abzweigung zur Station für Innere Medizin schlugen ihre Füße wie von selbst ein. Dennoch hatte Tia sich bei ihm eingehakt, denn es herrschte Besuchszeit: Die Gänge waren belebt, und das Durcheinander der vielen Stimmen und Geräusche machte sie ein wenig unsicher.
«Zur Augenheilkunde geht’s durch die andere Tür», wandte sich eine hilfsbereite Krankenschwester an Leon.
«Nein danke, deswegen sind wir nicht hier», antwortete er.
Tia schmunzelte. Der Irrtum war begreiflich: Wer ihre dunkle Brille und das Blindenabzeichen sah, kam nicht leicht auf die Idee, dass sie nur als Besucherin hier war.
«Wahrscheinlich ist die Journalistin auch da», sagte Leon, während sie einen langen Flur hinabgingen. «Justin meinte, sie käme heute Nachmittag für ein Interview vorbei.»
«Frau Frey?» Tia lachte. «Na, ich muss schon sagen: Die gute Frau ist schwer auf Draht. Hat sie es also tatsächlich geschafft, ihrer Zeitung die Exklusivrechte zu sichern?»
«Zumindest bei Justin. Kein Wunder, sie hat den Jungen ja richtig ins Herz geschlossen.»
«Und er spielt mit?»
«Sicher, warum auch nicht? Das bietet ihm eine Gelegenheit, die Rolle seines Vaters in ein besseres Licht zu rücken.»
«Justin will ihn in Schutz nehmen?»
«Er versucht es zumindest. Stell dir vor,
dein
Vater säße in Untersuchungshaft! Würdest du nicht alles tun, um ihn zu verteidigen, egal, was er getan hat?»
«Doch», sagte Tia nachdenklich. «Das würde ich wahrscheinlich … Es muss hart sein für Justin.»
«Er hält sich tapfer», meinte Leon. «Es geht ihm auch schon besser. Gestern am Telefon klang er ganz aufgeräumt. Das Einzige, was ihn nervt – sagte er –, ist die Aussicht, nach der Entlassung erst einmal zu seiner Mutter ziehen zu müssen.»
Leon hielt an, klopfte an eine Tür und öffnete. Tia folgte ihm in
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