Das Gegenteil von Schokolade - Roman
sich speziell in solchen Notsituationen weigert anzuspringen. Mein Wagen ist erst drei Jahre alt und immer zuverlässig.
Deswegen kann ich schon wenige Minuten später meine übliche Verkehrswidrigkeit begehen, nämlich nach links auf die Hauptstraße abzubiegen, obwohl nur Rechtsabbiegen erlaubt ist. In Gedanken schlage ich mir dafür die siebenschwänzige Verkehrssünder-Katze auf den Rücken. Denn ich weiß, dass kein Polizist meine Entschuldigung akzeptieren würde: Emma wartet um halb zwölf auf mich!
Es ist nicht weit, aber trotzdem brauche ich scheinbar unendlich lange.
Mit quietschenden Reifen biege ich auf den großen Parkplatz ein, quetsche den Wagen in eine der letzten freien Parkboxen und springe raus.
Mit langen Schritten bin ich in einer Minute am Eingang des Bahnhofs angelangt und muss nur noch die letzte Hürde überwinden: die Schlange vor der Kasse.
Meine Armbanduhr mahnt mich: Noch eine Minute. Dann wird Aschenputtel das Schloss verlassen und mir vielleicht nicht den Gefallen tun, auf der Treppe einen gläsernen Schuh zu verlieren.
Mit dem Glockenschlag sozusagen bekomme ich den obligatorischen Stempel verpasst – wenigstens heute Abend bin ich eindeutig identifiziert – und schiebe mich, groß, blond, rücksichtslos, an allen vorbei, die mir im Weg stehen.
Dem Weg zum Café-Durchgang. Wo Emma gleich auftauchen wird.
Tatsächlich stehen dort schon ein paar Frauen herum. Michelin sagt immer, sie halten sich an ihren Gläsern fest oder versuchen mit verschränkten Armen so auszusehen, als seien sie nicht auf der Suche. Und Frederike, die gute Freundin von Michelin, die gleich ganze Bücher über die Lesbenszene schreibt, nennt es in ihren Geschichten auch immer so.
Ehrlich gesagt, finde ich aber, dass diese Frauen hier nicht so aussehen, als suchten sie eine Langzeitbeziehung oder wilde Affäre. Ich finde, sie sehen aus wie Frauen, die in einer Disco gerade mal keine Lust auf den dicksten Rummel haben und sich daher in diese stillere Ecke zurückgezogen haben.
Deshalb stelle ich mich dazu. Und hoffe, dass keine die Vermutung anstellt, dass ich gerade vergeblich versuche, so auszusehen, als sei ich nicht auf der Suche.
Ich bin nämlich nicht auf der Suche. Damit das klar ist.
»Frauke, was tust du denn hier?«
Es ist Angela, die mich da von der Seite anspricht.
Sie kommt wohl gerade aus dem Café, und ihre Miene drückt neben Erstaunen über mein Auftauchen auch Erleichterung aus.
Ich erinnere mich daran, wie Michelin mir einmal anvertraut hat, dass Angela sich auf solchen Szeneveranstaltungen immer noch nicht wirklich wohl fühlt. »Sie sagt, sie ist ein Alien mit ihren zweiundvierzig Jahren«, hatte Michelin grinsend gemeint. Der Gedanke daran gibt mir Sicherheit. Ich bin also wenigstens nicht die Einzige, die sich hier nicht wirklich dazugehörig fühlt.
»Ich dachte, du wolltest nicht kommen … Oder hat Michelin dich mit ihrem Anruf doch irgendwie überzeugen können?!«
Dankbar greife ich diese Vorgabe auf: »Genau! Als wir aufgelegt hatten, da dachte ich … wieso soll ich zu Hause hocken? Na ja, dann bin ich hergefahren. Ich wusste ja, dass ich euch hier treffe.«
Angela nickt und wirft einen kurzen, fahrigen Blick in die Runde der Frauen, die uns unmittelbar umgeben.
»Ich hab mal die Gelegenheit genutzt. Lena ist übers Wochenende mit ihrer Freundin weggefahren. Ich muss sagen, ich fühle mich hier wesentlich wohler, wenn ich mich nicht bei jedem Schritt von meiner Tochter beobachtet fühle.«
Ja. Das muss wirklich sonderbar sein. Sich in den gleichen Lebensräumen und Nischen zu bewegen wie die eigene Tochter. Vielleicht auch gerade deshalb, weil Angela jetzt mit einer Frau zusammenlebt, mit der auch ihre Tochter mal eine kurze, heftige Affäre verband. Na, das sind Familienverhältnisse.
»Wobei ich mich frage, ob es überhaupt einen Unterschied macht, wer einen langen Hals bekommt bei dem Versuch, uns fortwährend im Blick zu behalten. Michelin kann mir hundertmal nette Geschichten aus der Szene erzählen, ich bleibe eh bei meiner Meinung. Im Grunde geht es hier doch nicht anders zu als auf der Sylter Strandpromenade: Sehen und gesehen werden. Außerdem bleibt es für mich ein unüberschaubares Gewimmel aus Exen und Möchte-gern-Zukünftigen. Wirklich zu Hause werde ich mich hier sicher nie fühlen.«
Ich nicke mitfühlend. Ich kenne Michelins beinahe wehmütigen Erzählungen aus ihren wilden Zeiten ebenso wie ihre bittersüße Kritik.
Die Szene.
Hat für mich
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