Das Gegenteil von Schokolade - Roman
würdig direkt zu ihrem Korb, in dem sie dann seufzend zusammenbricht.
»Schätze mal, Loulou erklärt ihren Abend jetzt für beendet«, versuche ich einen Scherz, und Antonie lächelt zuerst Loulou und dann mich liebevoll an. Liebevoll? Ich sehe zu, dass ich schnell in die Küche komme, um noch einen Tee aufzugießen, während sie sich locker wieder aufs Sofa fallen lässt.
Ihre Eltern haben sich früh getrennt, erzählt sie. Es war eine sonderbare Zeit, in der sie bei Onkel und Tante wohnte und die Wochenenden mal bei Papa, mal bei Mama verbrachte. Bis die Wochenenden bei Papa immer häufiger wurden und sie Mama schließlich gar nicht mehr sah.
»Gar nicht mehr?«, wiederhole ich vorsichtig. Eltern sind ein sensibles Thema. »Warum nicht?«
Antonie zuckt die Achseln. Das habe ich inzwischen oft an ihr gesehen. Sie tut es, um zu sagen: ›Das macht mir nichts aus! Ich nehm das locker!‹, und ich habe ihrem Achselzucken bisher immer geglaubt. Aber weil sie es jetzt auch tut, stutze ich zum ersten Mal und frage mich, ob es die Wahrheit ist, die sie mir damit erzählen will.
»Keine Ahnung«, sagt sie lapidar. »Ich nehme mal an, sie wollte mich einfach nicht mehr … sehen.«
Sie wollte mich einfach nicht mehr. Bleibt in der Luft hängen. Zwischen uns wie eine erste Offenbarung.
Eine erste Wunde, die sie mir zeigt.
Mir wird klar, dass ich viel früher so ehrlich zu ihr wahr. Indem ich ihr von Lothar erzählte. Sie beginnt jetzt damit. In diesem Moment.
Denke ich. Aber dann kommt nichts weiter. Und ich vermute, dass es schon mehr war, als sie normalerweise von ihrer Mutter erzählt.
Sie gähnt, und ich schaue auf die Kaminuhr.
»Schon so spät?! Sollen wir schlafen gehen?«
Für eine Sekunde sehen wir uns unsicher an.
Sie nickt und springt mit einem Ruck auf, als würde sie sonst auf der Stelle einschlafen.
»Ich habe morgen früh Dienst in der Praxis.«
»Und ich im Büro.«
Wir grinsen uns kurz an, sie stehend, ich sitzend.
»Ich weiß nicht«, murmelt sie dann, plötzlich ernst, und wendet sich ab. »Ich weiß nicht. Irgendwie komisch.«
Ich traue mich nicht, sie zu fragen, was sie meint. Vielleicht meint sie mich. Vielleicht findet sie mich komisch. Oder uns. Wie wir den heutigen Abend verbringen. Wie gar nichts passiert, was passieren könnte. Und wie dennoch zwischen uns etwas sich dehnt und sich aufplustert.
Sie erklärt auch nicht, was sie meint. Wir sprechen nicht.
Minutenlanges Schweigen um uns.
Sie läuft im Raum herum wie ein Raubtier im Käfig. Ihr e Hose hängt ihr auf den Hüften, und ich muss mich zusammenreißen, um nicht abwechselnd auf den Streifen Bauch, der unter ihrem T-Shirt sichtbar ist, und ihren Po zu starren.
So was gibts ja nicht. Ich glotze einer Frau auf den Hintern. Das hab ich sonst echt nur bei Männern gemacht. Und es kommt mir so vor, als würde ich ihr damit zu nahe treten. Gott sei Dank habe ich meinen Verstand noch so zusammen, dass ich mich von ihr nicht dabei ertappen lasse.
Ich trage die Teekanne und die Tassen auf dem Tablett in die Küche und stelle alles in die Spüle. Als ich zurückkomme, steht Antonie vor meinem Schreibtisch und starrt auf die Tastatur meines Computers.
Einen winzigen Moment lang ist mir so, als schöbe sich ein Vorhang zur Seite und ich könne dahinter etwas Geheimes erkennen. Etwas, das mir bisher noch nicht in den Sinn gekommen ist und das gleichzeitig einfach und nahe liegend, aber eben auch abstrus und sonderbar ist. Nur ein Bruchteil von einer Sekunde winkt es mir zu. Dann ist es wieder verschwunden, und ich kann Antonie nur verwundert anschauen.
»Was machst du da?«, höre ich mich selbst fragen, während ich vergeblich versuche, den flüchtigen Gedanken noch einmal zu greifen.
Antonie zuckt leicht zusammen und wendet sich um. In ihrem Gesicht ist ein Wechselbad von Gefühlen zu lesen.
»Ich habe mir nur grad vorgestellt, dass du hier immer sitzt und deine Finger über die Buchstaben huschen«, murmelt sie, doch dann schüttelt sie den Kopf, lacht und ist wieder genauso locker wie immer. »Na, dann werd ich mal ins Bad verschwinden, wie? Hast du zufällig eine Zahnbürste für mich?«
Nur noch wie ein sich auflösender Nebelschleier hängt die Einsicht hinter dem Vorhang in meinem Kopf. Ihr Blick über die Tastatur und der beinahe wehmütige Tonfall. Doch dann löst sich endgültig jede Ahnung auf, und ich husche rasch vor ihr ins Bad, um in meinem Schrank nach einer neuen Zahnbürste zu suchen.
Als Antonie gerade die
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