Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
EDITORIAL
Liebe Leserinnen und Leser,
am 5. Juni 2012 starb Ray Bradbury im Alter von 91 Jahren in Los Angeles, und man kann wohl mit einiger Bestimmtheit sagen, dass er der letzte der »großen« Science-Fiction-Autoren des 20. Jahrhunderts war; jedenfalls ganz sicher der letzte SF-Autor des 20. Jahrhunderts, dem eine offizielle Würdigung aus dem Weißen Haus zuteil werden wird. »Für viele Amerikaner«, ließ Barack Obama mitteilen, »hat die Nachricht vom Tod Ray Bradburys Bilder aus seinen Büchern in Erinnerung gerufen, die dort seit jungen Jahren eingeschrieben waren. Bradbury war sich bewusst, dass unsere Einbildungskraft dazu genutzt werden kann, Dinge besser zu verstehen, sie zu verändern und unsere tiefsten Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen.«
Auch wenn Bradbury stets seine Distanz zu den drei anderen »großen« Science-Fiction-Autoren des letzten Jahrhunderts, den technischen Visionären Isaac Asimov, Robert A. Heinlein und Arthur C. Clarke, betonte, ja, sich eigentlich gar nicht als Science-Fiction-, sondern eher als Fantasy-Autor sah, so hat er doch das Genre mit seinen Geschichten maßgeblich geprägt – und weit darüber hinaus das Bild, das sich die Menschheit von ihrer Zukunft und damit von
ihren eigenen Möglichkeiten macht. Er war, in seinem Beharren darauf, dass die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, der Welt, wie sie tatsächlich ist, keineswegs nachgeordnet ist, ein uramerikanischer Schriftsteller; aber auch einer, der immer wieder darauf hinwies, was verloren gehen kann, wenn wir zu ungestüm, zu enthusiastisch in die Zukunft stürmen: ein Dichter der Atemlosigkeit und des Atemholens, der Nostalgie und des Aufbruchs. Und Bradbury war auch das beste Beispiel dafür, wie aus den überhitzten Jugendphantasien der amerikanischen Pulps – unvergesslich die von einer Rakete geschmückte Galaxy -Ausgabe, in der seine Geschichte »The Fireman« enthalten war, der Nukleus des späteren Weltromans »Fahrenheit 451« – tatsächlich große Literatur werden kann, ohne dass man sich von diesen Phantasien gänzlich lossagt; eine andere Literatur freilich, als sie sich die Wächter des »realistischen« Kanons vorstellen, aber trotzdem: groß.
Natürlich würdigen wir Ray Bradbury in dieser Ausgabe des HEYNE SCIENCE FICTION JAHRES, und nicht nur das: Wir würdigen in einer ganzen Reihe von Essays auch jene Zeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der beinahe alles, was wir heute mit der Science Fiction assoziieren, entstanden ist, in der, wenn man so will, die Träume geboren wurden. Ray Bradbury
war ein nicht wegzudenkender Teil dieser Zeit. Seine Träume werden noch viele Generationen von Menschenkindern inspirieren.
Einiges ist neu an der 2012er Ausgabe des SCIENCE FICTION JAHRES, aber nicht alles: Auch weiterhin wollen wir der Ort sein, an dem die Themen und Erscheinungsformen des Genres möglichst fundiert, möglichst kritisch diskutiert werden. Wir haben diesem Ort jedoch eine neue Struktur gegeben und damit – so hoffen wir zumindest – die Sichtweise auf ebendieses Genre auch etwas verschoben: weg von einer starren Rubrizierung, hin zu einer spannenden Mischung aus Texten, die sich auf unterschiedlichste Weise – ob als akademische Analyse, als Feuilleton oder als Gespräch – der Science Fiction nähern. Selbstverständlich werden die Bücher, Comics, Hörspiele, Filme und Computerspiele des Jahres in gewohnter Manier besprochen und die Entwicklungen am »Markt« dokumentiert – dies etwas übersichtlicher und klarer sortiert als bisher –, doch den vorderen Teil haben wir so weit wie möglich geöffnet, um nachzuvollziehen, was sich in der kulturellen Landschaft längst ereignet: Längst vermischen sich die Medien, und längst ist die Science Fiction Teil des kulturellen Mainstreams. Was in keiner Weise abwertend gemeint sein soll: Die Science Fiction hat nämlich alle Möglichkeiten, diesen Mainstream zu bereichern; es wäre traurig, sollte sie weiter störrisch in einer Nische verharren.
Vor diesem Hintergrund wollen wir das Hauptaugenmerk auf jene legen, die Science Fiction »machen«, und damit auch Verbindungslinien ziehen, die vor gar nicht allzu langer Zeit so wohl noch nicht wahrgenommen worden wären: Was haben Margaret Atwood und Heinrich Steinfest, Philip K. Dick und Rainer Werner Fassbinder, Moebius und John
Carmack, Cory Doctorow und Klaus Mainzer gemeinsam? Genau: Sie alle blicken über den Tellerrand dessen, was ist (oder
Weitere Kostenlose Bücher