Das Geheime Vermächtnis
ging nicht weit weg. Das ist eine Entscheidung, die ich schon vorher getroffen hatte, glaube ich. Es kam für mich nicht infrage, nach London zurückzukehren – das wäre mir vorgekommen, als liefe ich rückwärts. Und am Rand von Barrow Storton war dieses Häuschen zu mieten. Nicht hübsch, nicht malerisch, aber in Ordnung. Ein typisches kleines Fünfzigerjahre-Haus am Ende einer kurzen Reihe identischer Cottages. Zwei Schlafzimmer, damit Beth und Eddie zu Besuch kommen können, und eine tolle Aussicht aus meinem Schlafzimmer vorne raus. Am entgegengesetzten Ende des Dorfes steht das Herrenhaus. Ich kann über das Tal hinwegschauen, auf dessen Sohle das Dorf liegt, und eine Ecke von Storton Manor ist durch ferne Bäume zu erkennen – immer weniger, jetzt, da das Laub dichter wird. Dahinter breitet sich die sanft gewellte Landschaft aus, mit dem Grabhügel als höchster Erhebung am Horizont.
Es macht mich sehr heiter und gelassen, hier zu leben. Ich habe einfach das Gefühl, hierherzugehören. Ich komme nie auf den Gedanken, dass ich irgendetwas anderes tun, auf irgendetwas hinarbeiten oder etwas verändern sollte. Ich warte nicht einmal auf irgendetwas, nicht so richtig jedenfalls. Ich achte sogar darauf, nicht zu warten. Ich unterrichte in Devizes und gehe viel spazieren. Ich besuche George Hathaway auf einen Tee und ein paar Kekse. Manchmal ver misse ich die Leute, von denen ich in London umgeben war – keine bestimmten Personen, sondern die vielen Gesichter um mich herum. Die Illusion von Gesellschaft. Doch hier nehme ich die Gesichter, die ich sehe, umso intensiver wahr. Menschen sind nicht mehr nur Teil einer Menge, wie früher. Ich habe mich mit meinen Nachbarn Susan und Paul angefreundet, und manchmal hüte ich ihre Kinder, ohne Geld dafür zu nehmen, weil ihre kleinen Mädchen geflickte Hosen tragen, die ihnen viel zu kurz sind, und weil sie nie ins Ballett oder zum Judo gehen oder Reitstunden nehmen können. In ihrem Garten steht kein Trampolin. Susans Gesichtsausdruck wechselte von anfänglichem Argwohn zu ungläubiger Freude, als ich ihr das Angebot gemacht habe. Die Mädchen sind lieb und tun, was man ihnen sagt, jedenfalls meistens. Ich nehme sie mit auf Erkundungstouren in die Hügel oder am Fluss entlang. Wir machen uns Cornflakes-Kuchen und heiße Schokolade, während Susan und Paul in den Pub, ins Kino, einkaufen oder miteinander ins Bett gehen.
Honey weiß, dass ich hier bin, und Mo ebenfalls. Ich war noch einmal bei ihnen, um Haydee zu besuchen und ihnen zu sagen, wo ich wohne, und seither haben beide schon bei mir vorbeigeschaut. Ich habe das silberne Glöckchen an Flags Beißring geputzt, das ganze Ding auf Hochglanz poliert und es dann in Haydees Bettchen gesteckt. Sie hat den Beißring mit einem dicken Händchen ergriffen und ihn sich sofort in den Mund gesteckt. Der hat deinem Urgroßvater gehört, habe ich ihr zugeflüstert. Ich habe ihnen meine Adresse aufgeschrieben und Honey gebeten, sie gut aufzubewahren, für den Fall, dass einmal jemand nach mir fragen sollte. Sie hat mich geradeheraus mit ernstem Blick angesehen und eine Augenbraue hochgezogen. Aber sie hat nichts gesagt. Sie geht jetzt wieder zur Schule, und Mo kommt öfter mit Haydee im Kinderwagen vorbei. Sie läuft von West Hatch hierher, weil, so behauptet sie, nur die frische Luft und die Bewegung das Kind zum Einschlafen bringen. Ich stärke sie dann hier, am entferntesten Punkt ihres Weges, mit einer Tasse Tee. Mo läuft mit einem leicht watschelnden Gang, der Rücken tut ihr weh, und wenn sie bei mir ankommt, ist sie meistens ganz verschwitzt und zupft an ihrem T -Shirt herum, das an ihren Brüsten klebt. Aber sie liebt Haydee. Während ich Tee koche, deckt sie das Baby sorgfältig zu und kann sich dabei meist das Lächeln nicht verkneifen.
Das Foto von Caroline und ihrem Baby steht in einem Rahmen auf meinem Fensterbrett. Ich bin irgendwie nie dazu gekommen, es Mum zu geben. Noch immer bin ich stolz darauf, dass ich die Identität des Kindes aufgeklärt und den Ursprung der Kluft zwischen meiner und Dinnys Familie entdeckt habe. Mum hat nicht schlecht gestaunt, als ich ihr die Geschichte erzählt habe. Ich kann nicht alles schlüssig beweisen, aber ich weiß, dass sie wahr ist. Ich habe beschlossen, es schön zu finden, dass ich nicht alles herausfinden kann, dass es Lücken gibt, die ich nie schließen werde – zum Beispiel, warum Caroline ihre frühere Ehe geheim gehalten und weshalb sie ihr Kind versteckt hat. Wo
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