Das Geheime Vermächtnis
Prolog
Prolog
1905
L angsam kam Caroline wieder zu sich. Die Benommenheit wich zurück, und sie wurde sich unzähliger Gedanken bewusst, die wie Vögel in einem Käfig durcheinanderflatterten, so schnell, dass sie sie nicht greifen konnte. Mit unsicheren Bewegungen richtete sie sich auf. Das Kind war noch da, auf dem Bett. Angst fuhr ihr klamm den Rücken hinab. Ein Teil von ihr hatte gehofft, dass es nicht so sein würde – dass er irgendwie verschwunden sein könnte, oder besser noch, nie hier gewesen wäre. Er war bis ans andere Ende des Bettes gerobbt, obwohl er Mühe hatte, sich auf der rutschig-weichen Tagesdecke vorwärtszuziehen. Seine kräftigen Fäuste packten eine Handvoll Stoff nach der anderen, und er bewegte sich wie schwimmend ganz langsam über die blaugrüne Seide. Er war so groß und stark geworden. An einem anderen Ort, in einem anderen Leben, hätte ein Krieger aus ihm werden können. Sein Haar war pechschwarz. Der Kleine spähte auf dem Bett umher und wandte dann den Kopf, um Caroline anzusehen. Er gab einen einzelnen Laut von sich, ein leises dah . Und so unsinnig das auch sein mochte, Caroline wusste, dass es eine Frage war. Sie hatte Tränen in den Augen, und ihre Knie drohten erneut nachzugeben. Er war real. Er war hier, in ihrem Schlafzimmer in Storton Manor, und er war stark genug geworden, um ihr Fragen zu stellen.
Ihre Scham glich einer Wolke, die ihr Blick nicht durch dringen konnte. Sie hing wie Rauch in der Luft, verschleierte alles und machte jeden klaren Gedanken unmöglich. Caroline wusste nicht, was sie tun sollte. Lange Minuten verstrichen, bis sie glaubte, Schritte auf dem Flur vor der Tür zu hören. Ihr Herz machte einen Satz, und alles, was sie letztendlich wusste, war, dass das Baby nicht hierbleiben konnte. Nicht auf dem Bett, nicht in ihrem Zimmer, nicht in diesem Haus. Er konnte nicht bleiben , und ebenso wenig durften irgendwelche Bediensteten oder ihr Mann erfahren, dass er je hier gewesen war. Die Dienstboten hatten ihn womöglich schon entdeckt, vielleicht irgendetwas gesehen oder gehört, während sie bewusstlos auf dem Boden lag. Sie konnte nur beten, dass niemand etwas bemerkt hatte. Sie wusste nicht, wie lange sie dort verharrt hatte, vor Grauen und Trauer wie von Sinnen. Offensichtlich nicht so lange, dass dem Kind die Erkundung des Bettes inzwischen langweilig geworden wäre. Ihr blieb noch Zeit, zu handeln, und sie hatte keine andere Wahl.
Caroline wischte sich die Tränen vom Gesicht, ging um das Bett herum und hob den kleinen Jungen hoch, zu beschämt, um ihm in die Augen zu schauen. Auch die waren schwarz, das wusste sie. So schwarz und undurchdringlich wie Tintenflecke. Er war so viel schwerer als in ihrer Erinnerung. Sie legte ihn hin und zog ihm alles aus, auch die Windel. Denn obwohl die Kleidung einfach und grob war, fürchtete sie, die Sachen könnten jemanden auf die Spur zu ihr bringen. Sie warf sie in den Kamin, wo sie auf den Kohlen des morgendlichen Feuers qualmten und stanken. Dann blickte sie sich hilflos um, bis ihr Blick auf den bestickten Kissenbezug am Kopfende des Bettes fiel. Die Stiche waren fein und präzise und bildeten gelbe, bandförmig angeordnete Blüten. Das Leinen war glatt und dick. Caroline zog ihn von dem Kissen und steckte das zappelnde Baby hinein. Sie ging sehr zärtlich mit ihm um, denn ihre Hände waren sich ihrer Liebe zu dem Kind bewusst, wenngleich ihr Verstand sie nicht fassen konnte. Doch sie wickelte den Kleinen nicht darin ein. Stattdessen stülpte sie den Kissenbezug um wie einen Sack und trug das Baby darin hinaus wie ein Wilderer seine Beute. Tränen, die aus tiefstem Herzen kamen, liefen ihr übers Gesicht. Aber sie durfte nicht zögern, sie durfte sich nicht erlauben, ihn wieder zu lieben.
Draußen regnete es in Strömen. Caroline lief mit schmerzendem Rücken und kribbelnder Kopfhaut über den Rasen und glaubte, die Blicke des Hauses auf sich zu spüren. Sobald sie die Bäume erreicht hatte, wo sie außer Sicht war, rang sie nach Luft. Die Knöchel der Finger, die den Kissenbezug zuhielten, traten weiß hervor. Das Kind zappelte leicht und brabbelte vor sich hin, aber es weinte nicht. Regen rann ihr durchs Haar und tropfte von ihrem Kinn. Doch er wird mich niemals reinwaschen, sagte sie sich in stiller Verzweiflung. Da war ein Teich, das wusste sie. Ein Weiher am anderen Ende des Parks, wo das Anwesen auf das Hügelland stieß, in welchem der Bach entsprang, der durch das Dorf floss. Der Teich war tief
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