Das Geheimnis der Äbtissin
strich er die frische Naht damit ein. Mit ruhiger Hand deckte er sie mit den Tüchern ab und plazierte die fertigen Leisten rund um Ludwigs Bein. Judith erkannte, dass er sorgsam darauf achtete, die dünnen Latten nicht auf die Wunde zu drücken.
»Meister, jetzt gilt es noch einmal! Hebt das Bein mit Hilfe der Hölzer vorsichtig an, der Knochen darf sich nicht verschieben. Jungfer, singt Euer Lied.«
Und während sie leise sang, wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich wünschte, alles so zu können wie dieser Maure. Heilen! Was für eine gewaltige und schöne Aufgabe. Ihr Herz begann energischer zu klopfen. Schon einmal hatte sie diese Euphorie gefühlt, vor drei Sommern, als ihr Vater sie auf dem Hof zu einer großen braunen Stute führte. Das war eine Woche, nachdem sie die Mutter zu Grabe getragen hatten. Damals hatte sie begriffen, dass sie alles erreichen konnte, wenn sie nicht aufgab. Nach unzähligen Stürzen und Prellungen am ganzen Körper war es ihr gelungen, auf dieses geduldige und sanfte Pferd zu klettern, unter dessen Bauch sie noch durchlaufen konnte, ohne sich allzu sehr bücken zu müssen.
»Würdest du mich lehren, Menschen zu heilen?«
Er hielt inne. Forschend wanderte sein Blick über ihr Gesicht. »Zum Heilen muss man geboren sein, Jungfer Judith. Das lernt man nicht einfach so.«
Enttäuschung stieg siedend heiß in ihr auf und drückte ihr Tränen in die Augen. Nur jetzt nicht weinen! Das brachte sie ihrem Ziel auf keinen Fall näher.
»Hast du auch einen richtigen Namen?«
Er steckte den letzten Streifen des Leintuchs fest und nickte. »Man nennt mich Silas.«
Im Saal räumten Knechte und Mägde die Essensreste von der Tafel und schenkten Wein nach. Judith suchte in den großen Schüsseln und auf den hölzernen Platten. Der Heiler musste Hunger haben. Sie stieß auf einen Rest lauwarme Weinsuppe, fand ein halbes Hühnchen in Pfeffersoße und ein vergessenes Haferküchlein. Von einer Magd ließ sie einen Krug mit Wein füllen. Jetzt, da der größte Hunger gestillt war, brandete unter den Männern eine angeregte Unterhaltung auf. Die Heimkehrer berichteten von ihren Erlebnissen bei der Belagerung und Plünderung einer Stadt namens Tortona. Karol saß wieder am unteren Ende der Tafel und löffelte hastig mit hochrotem Gesicht aus einer Tonschüssel. Ihm gegenüber beschrieb Eckardt den umsitzenden Leuten mit anschaulichen Gesten, wie er Ludwigs Knochen gerichtet hatte.
Neugierig schielte Judith nach der jungen Braut. Das Mädchen spielte mit einer Strähne ihres hellen Haares, die unter dem Gebände hervorlugte, und gähnte verdrossen. Sie tat ihr leid. Sie schien wirklich müde zu sein. Isabella war nirgends zu sehen.
»Du musst Judith sein!« Eine feste Stimme ließ sie herumfahren. Vor ihr stand der Kaiser. Verlegen knickste sie und senkte den Kopf. »Dein Vater hat viel von seinen Kindern erzählt. Wusstest du, dass meine Mutter denselben Namen trug wie du?«
»Nein, Herr!« Hoffentlich nahm er ihr das nicht übel.
Der Kaiser lachte und griff in seinen Beutel. »Ein schöner Name, nicht wahr? Hier, das ist für dich, kleine Judith.«
Kleine? Verstimmt starrte sie auf das Kettchen, das vor ihrem Gesicht baumelte. Es glänzte silbern. Ein Kreuz hing daran, dessen Mitte von einem roten Stein verziert wurde. Erst als er sich räusperte, griff sie zu und verbeugte sich.
»Danke, Durchlaucht!«, fiel ihr noch rechtzeitig ein. Hastig fingerte sie das Kleinod um ihren Hals.
Wieder lachte der Kaiser, strich ihr über die Zöpfe und ging zurück zu dem blassen Mädchen, das jetzt seine Frau war.
Als sie Krug und Schüsseln nach oben brachte, saß Silas am Lager ihres Bruders. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Interessiert betrachtete sie das schwarze Haar, das sein Gesicht verdeckte. Wie bei einem gut gestriegelten Rappen, dachte sie. Leise stellte sie den Korb mit dem würzig duftenden Essen neben ihm ab und schlich hinunter. Vielleicht konnte sie mit dieser Beatrix ein Gespräch beginnen.
Im Saal stieß sie jedoch auf ihren Vater. »Judith, was suchst du noch hier? Geh schlafen!«
»Jemand muss sich um die Prinzessin kümmern. Sie ist müde.«
»Mach dir keine Gedanken. Sie hat genug Gesinde dabei.«
Wütend über sich selbst stapfte sie die Wendeltreppe wieder hinauf. Musste sie ausgerechnet ihrem Vater in die Arme laufen? Einen Moment erwog sie, auf der steinernen Treppe sitzen zu bleiben und zu lauschen. Doch dann wurde ihr klar, dass die Zungen der Männer schon schwer
Weitere Kostenlose Bücher