Das Geheimnis der Eulerschen Formel
voller Tatendrang zu beginnen.
Er war einst Hochschulprofessor gewesen, der sich auf das Gebiet der Zahlentheorie spezialisiert hatte. Mit 64 Jahren wirkte er älter, als er tatsächlich war. Das lag vor allem an seinem ausgemergelten Zustand. Es war, als würden die nötigen Nährstoffe nicht in alle Winkel seines Körpers gelangen.
Wegen seines arg gekrümmten Rückens war sein Körpermaß auf weniger als 1,60 Meter geschrumpft. In den Falten seines verknöcherten Nackens hatte sich Schmutz angesammelt und das wild zerzauste, struppige Haar bedeckte zur Hälfte seine Glück verheißenden Buddhaohren. Seine Stimme klang brüchig, und er bewegte sich so langsam, dass er für alles doppelt so viel Zeit benötigte.
Wenn man jedoch genauer hinschaute und von seinem ausgezehrten Körper absah, konnte man ein hübsches, jungenhaftes Antlitz entdecken. Zumindest wiesen sein ausgeprägtes Kinn und die klaren Gesichtszüge darauf hin, dass er früher mal ein schöner Mann gewesen sein musste.
Ob der Professor daheim blieb oder ausging – was höchst selten vorkam –, er trug jeden Tag ausnahmslos einen Anzug mit Krawatte. In seinem Kleiderschrank hingen drei Anzüge, einer für den Winter, einer für den Sommer und einer für den Übergang, drei Krawatten, sechs Oberhemden und ein Mantel aus Schurwolle. Er besaß weder einen Pullover noch eine Freizeithose. Für eine Haushälterin war solch ein pflegeleichter Kleiderschrank perfekt.
Der Professor wusste augenscheinlich nicht, dass es außer einem Anzug noch andere Kleidungsstücke gab. Vermutlich interessierte es ihn kaum, was andere Leute trugen, und noch weniger kümmerte er sich um sein eigenes Aussehen. Für ihn war das wohl Zeitverschwendung. Er begnügte sich damit, morgens nach dem Aufstehen den Kleiderschrank zu öffnen und den für die Jahreszeit passenden Anzug anzuziehen, während die beiden anderen unangetastet in der Plastikfolie der Reinigung blieben. Alle drei Anzüge waren dunkel und abgetragen. Irgendwie passten sie zur äußeren Erscheinung des Professors, als wären sie seine zweite Haut.
Was mich jedoch am meisten verblüffte, waren die unzähligen kleinen Notizzettel, die mit Klammern befestigt an allen möglichen Stellen an ihm hingen. Sie baumelten am Kragen, an Ärmeln, Taschen und Säumen, am Gürtel, an den Knopflöchern. Wegen der Klammern war der Anzugstoff arg verknittert. Die Notizzettel selbst waren nicht mehr als Papierfetzen, zum Teil schon vergilbt und eingerissen. Um die jeweilige Notiz lesen zu können, musste man ganz nah herangehen und die Augen zusammenkneifen. Es war zu vermuten, dass er als Erinnerungsstütze für sein Kurzzeitgedächtnis alles notierte, was er nicht vergessen durfte, und sich die Zettel, die er sonst verlegen würde, an den Körper heftete. Sein Aufzug war ebenso skurril wie die tägliche Frage nach meiner Schuhgröße.
»Treten Sie ein. Ich habe zu tun und kann mich nicht um Sie kümmern. Sie können hier frei schalten und walten.«
Nach dieser Aufforderung verschwand der Professor in seinem Arbeitszimmer. Bei jeder seiner Bewegungen raschelten die Notizzettel.
Aus den Erzählungen meiner neun entlassenen Vorgängerinnen hatte ich heraushören können, dass die alte Dame verwitwet und ihr verstorbener Mann der ältere Bruder des Professors gewesen war. Nach dem frühen Tod der Eltern hatte ihr Ehemann die Textilfabrik übernommen, sie erfolgreich vergrößert und bereitwillig das Studiengeld für seinen jüngeren Bruder gezahlt, der sich somit der Mathematik widmen und sogar ein Auslandsstudium in Cambridge antreten konnte. Aber bald nachdem dieser seinen akademischen Titel erworben hatte und mit einem Lehrstuhl an der Mathematischen Fakultät finanziell auf eigenen Beinen stand, starb der ältere Bruder unerwartet an Hepatitis. Da das Ehepaar kinderlos geblieben war, schloss seine Schwägerin die Fabrik und ließ auf dem Grundstück ein Wohnhaus errichten, von dessen Mieteinnahmen sie fortan lebte. Ihrer beider Leben änderte sich dann schlagartig, als der Professor im Alter von 47 Jahren Opfer eines Verkehrsunfalls wurde. Ein Lastwagenfahrer war am Steuer eingeschlafen und mit dem Wagen des Professors frontal zusammengestoßen, wobei der Professor einen irreparablen Hirnschaden erlitt. Das kostete ihn seinen Lehrstuhl an der Universität. Da er außer den Preisgeldern für die Lösung mathematischer Probleme in Fachzeitschriften kein Einkommen besaß und nie geheiratet hatte, war er auf die
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