Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Staubsauger auf Hochtouren laufen. Das Zimmer war vollkommen chaotisch, aber irgendwie gemütlich. Ich saugte die unter dem Schreibtisch liegenden Haare weg und fand es nicht sonderlich überraschend, wenn zwischen seinen zerfledderten Büchern verschimmelte Eiscreme-Stiele oder abgenagte Hühnerbeine herumlagen.
Hier herrschte eine Art von Stille, die ich noch nie erlebt hatte.
Diese Stille, die auch den Professor erfüllte, wenn er schweigend durch den dichten Zahlenwald streifte, war nicht einfach bloß geräuschlos, sondern undurchdringlich, als hätte sie mehrere Schichten. Nie würde sie von verlorenen Haaren oder Schimmel verunreinigt werden. Es war eine Stille, die so klar war wie ein See, der in der Tiefe eines Waldes verborgen lag.
Bei aller Gemütlichkeit bot das Zimmer nichts, was meine Neugier hätte wecken können. Es gab keine Relikte aus der Vergangenheit des Hausherrn, weder persönliche Fotografien noch irgendwelche Souvenirs – einfach nichts, was die Fantasie einer Haushälterin anstacheln konnte.
Ich ging mit dem Staubwedel über das Bücherregal.
Gruppentheorie, Algebraische Zahlentheorie, Studien der Zahlentheorie … Chevalley, Hamilton, Turing, Hardy, Baker
… Unzählige Bücher, aber keines, das zu lesen ich Lust gehabt hätte. Die Hälfte davon trug fremdsprachige Titel auf dem Buchrücken, die ich nicht einmal entziffern konnte. Auf dem Schreibtisch lagen Stapel von Schreibheften, umgeben von Bleistiftstummeln und einer Unmenge Büroklammern. Es war ein trostloser Platz, dem man nicht ansah, welche geistigen Anstrengungen dort unternommen wurden. Einzig die Krümelreste vom Radiergummi zeugten davon, dass hier noch vor Kurzem jemand gearbeitete hatte.
Eigentlich sollte ein Mathematiker doch kostbare Utensilien wie Zirkel oder komplizierte Rechenschieber besitzen – Dinge, die es nicht in normalen Schreibwarenläden zu kaufen gab. Darüber wunderte ich mich, während ich die Radiergummikrümel wegfegte, die Heftstapel ordnete und die verstreuten Büroklammern auf einen Haufen legte. Auf dem durchgesessenen, gepolsterten Stuhl konnte man den Gesäßabdruck des Professors erkennen.
»Wann haben Sie Geburtstag?«
An diesem Abend verschwand er nach dem Essen nicht sofort in sein Zimmer, sondern schien ein Gesprächsthema zu suchen, während er mir beim Aufräumen zuschaute.
»Am 20. Februar.«
»Sieh an …«
Der Professor hatte aus dem Kartoffelsalat die Karotten herausgepickt und als Einzige auf dem Teller zurückgelassen. Ich räumte den Tisch ab und wischte ihn sauber. Wie immer war er voller Flecken, selbst wenn der Professor einmal nicht nachdachte. Der Ölofen in der Ecke brannte, denn obwohl der Frühling bereits fortgeschritten war, wurde es abends noch immer recht kühl, sobald die Sonne untergegangen war.
»Schicken Sie öfter Ihre Abhandlungen an solche Zeitschriften?« fragte ich.
»Das sind doch keine Abhandlungen. Es war nur die Lösung einer Rechenaufgabe. Zeitschriften für Leute, die Spaß am Rechnen haben, veröffentlichen gern solche Rätsel. Wenn man Glück hat, gewinnt man sogar einen Preis. Wohlhabende Mathematikliebhaber spenden dafür Geld.«
Er suchte seinen gesamten Anzug ab, bis sein Blick auf eine Notiz fiel, die an der linken Tasche festgemacht war.
»Heute habe ich einen Beweis an Heft 37 des
Journal of Mathematics
geschickt, nicht wahr?«
Es war länger als achtzig Minuten her, seitdem ich am Vormittag auf dem Postamt war.
»Das tut mir leid. Ich hätte es per Eilboten schicken sollen. Wenn es nicht zuallererst eintrifft, bekommen Sie den Preis womöglich nicht.«
»Nein, eine Eilsendung ist nicht erforderlich. Natürlich zählt, wer vor allen anderen die Lösung findet, aber noch viel wichtiger ist die Schönheit des Beweises.«
»Ach, es macht tatsächlich einen Unterschied, ob ein Beweis schön ist oder nicht?«
»Selbstverständlich.«
Der Professor erhob sich und trat neben die Spüle, wo ich das Geschirr wusch.
»Ein wahrhaftiger Beweis findet das perfekte Gleichgewicht zwischen perfekter Solidität und Geschmeidigkeit. Es gibt nämlich Lösungen, die an sich fehlerfrei sind, aber keine Anmut haben. Verstehen Sie? Aber es ist sehr schwierig, diese Schönheit in Worte zu fassen, genauso wie man nicht genau erklären kann, weshalb die Sterne einen in ihren Bann schlagen.«
Um den Professor, der zum ersten Mal so ausführlich mit mir plauderte, nicht zu verstimmen, hielt ich mit dem Abwaschen inne und nickte mit dem Kopf.
»Ihr
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