Das Geheimnis der Eulerschen Formel
angefangen zu haben, war niederschmetternd. Es war zu befürchten, dass ich das zehnte blaue Sternchen werden würde. Ich schwor mir, ihn nie wieder zu belästigen, wenn er nachdachte.
Allerdings war der Professor fast immerzu in Gedanken. Sei es, dass er aus dem Arbeitszimmer kam und sich an den Esstisch setzte, im Badezimmer lautstark gurgelte oder komische gymnastische Verrenkungen machte, immer grübelte er über etwas. Er verschlang alle Speisen, die man ihm vorsetzte, wobei er alles mechanisch in sich reinschaufelte, ohne wirklich zu kauen. Danach schlurfte er auf wackligen Beinen davon. Mir gelang es einfach nicht, nach Dingen zu fragen, die ich unbedingt wissen musste: wo er beispielsweise den Putzeimer aufbewahrte oder wie der Boiler funktionierte. Ich war sehr vorsichtig, möglichst kein unnötiges Geräusch zu machen. Mit angehaltenem Atem geisterte ich durch den Pavillon, immer darauf bedacht, den Professor in einer – und sei es noch so kleinen – Denkpause zu erwischen.
Es geschah an einem Freitag. Zwei Wochen waren seit meinem Arbeitsantritt vergangen. Der Professor saß um sechs Uhr abends wie üblich am Tisch. Da er beim Essen nie achtgab, hatte ich einen Gemüseeintopf gemacht, den er problemlos zu sich nehmen konnte, denn Gerichte, wo er Gräten entfernen oder die Schale ablösen musste, erschienen mir für ihn wenig geeignet.
Es mochte daran liegen, dass er früh seine Eltern verloren hatte, jedenfalls ließen seine Tischmanieren sehr zu wünschen übrig. Er bedankte sich nie, wenn man ihm seine Mahlzeit servierte, ihm fiel fast jeder Bissen aus dem Mund und mit seiner schmutzigen Serviette pulte er sich in den Ohren herum. Er beschwerte sich nie über meine Kochkünste, machte aber auch keine Anstalten, sich mit mir zu unterhalten, wenn ich gerade in der Nähe war.
Plötzlich entdeckte ich an seinem Ärmelaufschlag eine Notiz, die gestern noch nicht dort war:
Neue Haushälterin
. Jedes Mal, wenn er den Löffel eintauchte, lief er Gefahr, mit dem Zettel in den Eintopf zu geraten.
Die Schrift war klein und krakelig. Darunter war ein Frauengesicht gemalt: kurzes Haar, pausbäckig, mit einem Muttermal neben dem Mund. Es sah aus wie eine Zeichnung aus dem Kindergarten, doch mir war sofort klar, dass es ein Bild von mir war.
Während ich ihn den Eintopf schlürfen hörte, stellte ich mir vor, wie der Professor die Zeichnung hastig hingekritzelt hatte, bevor ihn nach meinem Dienstschluss seine Erinnerung wieder im Stich lassen würde. Der kleine Zettel zeigte mir, dass er ein wenig von seiner kostbaren Zeit für mich geopfert hatte.
»Möchten Sie noch eine Portion? Es ist noch reichlich da. Sie können getrost noch mehr essen.«
Völlig unbedacht hatte ich einen vertraulichen Ton angeschlagen. Doch statt einer Antwort hörte ich ein Rülpsen. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, verschwand der Professor wieder in seinem Arbeitszimmer. Auf seinem Teller hatte er nur die Karotten zurückgelassen.
Als ich mich am Montag wieder zu ihm begab, stellte ich mich wie üblich mit meinem Namen vor und zeigte dabei auf den Zettel an seinem Ärmel. Der Professor verglich mein Gesicht mit dem der Zeichnung, und nachdem er eine Weile schweigend über die Bedeutung der Notiz nachgesonnen hatte, grunzte er und erkundigte sich nach meiner Schuhgröße und meiner Telefonnummer.
Doch dann geschah etwas Überraschendes. Der Professor brachte mir einen Stapel Papiere, die er am Wochenende mit Formeln vollgekritzelt hatte, und bat mich, sie an das
Journal of Mathematics
zu schicken.
»Dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten …?«
Sein Ton war unerwartet höflich, nachdem er mich neulich in seinem Arbeitszimmer so angebrüllt hatte. Es war zum ersten Mal, dass er etwas von mir wollte. Offenbar hatte er eine Grübelpause eingelegt.
»Aber gerne doch«, erwiderte ich und schrieb gewissenhaft, um keinesfalls einen Fehler zu begehen, Buchstaben für Buchstaben der ausländischen, für mich absolut nichtssagenden Adresse auf den Umschlag. Es ging um die Teilnahme an einem Preisausschreiben dieser Zeitschrift, und als Überbringerin der Lösung eilte ich begeistert zum Postamt.
Wenn der Professor einmal nicht in Gedanken versunken am Schreibtisch saß, ruhte er die meiste Zeit in dem Sessel, der im Esszimmer vor dem Fenster stand. In der Zeit konnte ich dann sein Arbeitszimmer sauber machen. Ich öffnete das Fenster und brachte den Futon und sein Kopfkissen zum Auslüften in den Garten. Dann ließ ich den
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