Das Geheimnis der Wellen
den Scheidungsanwalt anrufen und ihr auf den Hals hetzen.
Er betrat den Raum, aus dem sie eine Bibliothek gemacht hatten. Als er gerade den Lichtschalter betätigen wollte, sah er sie im hellen Blitzlicht daliegen.
Bis es donnerte, war sein Kopf einfach nur leer.
»Lindsay?«
Er betätigte den Lichtschalter und machte einen Satz nach vorn. Er traute seinen Augen nicht.
Sie lag auf dem Boden, direkt vor dem Kamin. Der weiße Marmor, der dunkle Boden – überall Blut.
Ihre schokoladenbraunen Augen, die ihn einst so betört hatten, schienen aus beschlagenem Glas zu sein.
»Lindsay.«
Er ließ sich neben sie fallen, griff nach ihrer Hand – und merkte, dass sie eiskalt war.
*
Eli erwachte in Bluff House. Es dauerte ein wenig, bis er sich von seinem blutrünstigen, entsetzlichen, ständig wiederkehrenden Albtraum befreit und an die Sonne gewöhnt hatte.
Desorientiert und leicht benebelt setzte er sich auf. Er sah sich um, und während sein Puls langsam zur Ruhe kam, fiel ihm alles wieder ein.
Bluff House. Er war nach Bluff House zurückgekehrt.
Lindsay war seit fast einem Jahr tot. Das Haus in Boston war endlich zum Verkauf freigegeben worden. Der Albtraum war vorbei, auch wenn er ihn nach wie vor verfolgte.
Am liebsten wäre er gleich wieder eingeschlafen, doch dann würde er sich erneut in der kleinen Bibliothek neben seiner ermordeten Frau wiederfinden.
Trotzdem fiel ihm kein Grund zum Aufstehen ein.
Er glaubte, Musik zu hören – ganz leise in der Ferne. Was zum Teufel sollte das?
Hatte er das Radio oder den Fernseher eingeschaltet und dann vergessen? Das wäre nicht das erste Mal, seit er sich in dieser Abwärtsspirale befand.
Gut, immerhin ein Grund aufzustehen.
Da er sein Gepäck nicht mitgenommen hatte, schlüpfte er in die Klamotten vom Vortag und verließ das Zimmer.
Nach Radio klingt das eigentlich nicht, dachte er, als er die Treppe erreichte. Zumindest nicht ganz. Als er das Erd geschoss durchquerte, konnte er Adele ausmachen, aber auch eine zweite Frauenstimme, die lautstark mitsang.
Er folgte ihr bis in die Küche.
Adeles Gesangspartnerin griff in eine der drei Jutetaschen auf der Küchentheke, holte Bananen heraus und legte sie zu Äpfeln und Birnen in eine Bambusschale.
Er verstand das alles nicht.
Sie sang aus voller Kehle, nicht mit Adeles fantastischer Stimme, aber durchaus gut.
Lange walnussbraune Locken fielen über ihre Schultern auf einen dunkelblauen Pulli. Ihr Gesicht sah ungewöhnlich aus, anders konnte man das nicht nennen: Die großen mandelförmigen Augen, die markante Nase und die hohen Wangenknochen, der Mund mit der vollen Oberlippe und dem Muttermal links davon wirkten zusammen wie aus einer anderen Welt.
Aber vielleicht lag das an seiner derzeitigen geistigen Verwirrung.
An ihren Fingern funkelten Ringe, an ihren Ohren baumelten Ohrringe. Sie trug eine Halskette mit einem mond förmigen Anhänger und eine Uhr mit einem weißen, runden Ziffernblatt.
Immer noch lauthals singend nahm sie Milch und Butter aus der Tasche und wollte sich gerade zum Kühlschrank umdrehen, als sie ihn sah.
Sie schrie nicht, taumelte aber nach hinten und hätte beinahe die Milch fallen lassen.
»Eli?« Sie fasste sich mit der beringten Hand ans Herz. »Meine Güte, haben Sie mich erschreckt.« Mit einem heiseren, atemlosen Lachen strich sie ihre Mähne aus dem Gesicht. »Sie sollten doch erst heute Nachmittag eintreffen. Ich habe Ihren Wagen gar nicht gesehen, aber ich habe auch die Hintertür genommen und Sie bestimmt den Haupteingang. Sind Sie nachts gefahren? Dann ist weniger Verkehr, aber bei dem Eisregen waren die Straßen sicherlich glatt. Wie dem auch sei, jetzt sind Sie da. Möchten Sie einen Kaffee?«
Sie sieht aus wie eine langbeinige Fee, dachte er und starrte sie einfach nur an. »Wer sind Sie?«
»Oh, entschuldigen Sie. Ich dachte, Hester hätte Ihnen Bescheid gesagt. Ich bin Abra, Abra Walsh. Hester hat mich gebeten, alles für Ihre Ankunft vorzubereiten. Ich fülle nur die Küchenvorräte auf. Wie geht es Hester? Ich habe seit Tagen nicht mehr mit ihr gesprochen, sondern nur per E-Mail und SMS mit ihr kommuniziert.«
»Abra Walsh«, wiederholte er. »Sie haben sie gefunden.«
»Ja.« Sie holte eine Packung mit Kaffeebohnen aus einer Jutetasche und schüttete den Kaffee in die Maschine, die genauso aussah wie die in seiner Kanzlei. »Sie war nicht zum Yoga gekommen, obwohl sie sonst nie eine Stunde versäumt hat. Ich habe angerufen, aber es ist niemand
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