Das Geheimnis der Wellen
huschte zur Treppe – über die mit grinsenden Fratzen verzierten Treppenpfosten hinweg, die ein exzentrischer Landon in Auftrag gegeben hatte – und weiter nach oben, wo sich die Stufen elegant nach rechts und links schwangen, um zum Nord- beziehungsweise Südflügel zu führen.
Zimmer in Hülle und Fülle, in denen er übernachten konnte. Er brauchte nur die Treppe hinaufzugehen und sich eines auszusuchen.
Aber nicht sofort.
Er ging weiter zum sogenannten Salon mit den hohen Bogenfenstern, die auf den Vorgarten hinausgingen – beziehungsweise auf das, was davon übrig blieb, wenn der Winter darüber herfiel.
Seine Großmutter war seit über zwei Monaten fort, trotzdem konnte er nirgendwo auch nur ein Staubkorn ent decken. Holzscheite lagen zum Anzünden bereit im Kamin, der von glänzendem Marmor eingefasst war. Frische Blumen standen auf dem Hepplewhite-Tisch, den sie so liebte. Kissen lagen aufgeschüttelt und einladend auf den drei Sofas. Das Kastanienparkett war frisch poliert.
Sie musste eine Putzfrau beauftragt haben. Eli rieb sich die Stirn, um den beginnenden Kopfschmerz zu verscheuchen.
Hatte sie nicht so etwas erwähnt? Dass sich jemand um das Haus kümmerte? Eine Nachbarin, die ihr auch sonst half, alles in Ordnung zu halten. Die Information war ihm nur vorübergehend entglitten, wie so vieles in letzter Zeit.
Nun war es seine Aufgabe, sich um Bluff House zu kümmern. Es zu pflegen, ihm neues Leben einzuhauchen, wie sich seine Großmutter das gewünscht hatte. Vielleicht würde das ja auch ihm neues Leben einhauchen, hatte ihre Bemerkung gelautet.
Er nahm seine Taschen, sah zur Treppe hinüber und erstarrte.
Dort, am Fuß dieser Treppe, war sie gefunden worden. Eine Nachbarin hatte sie entdeckt – dieselbe, die bei ihr putzte? Gott sei Dank hatte jemand nach ihr geschaut und sie bewusstlos, blutend, mit blauen Flecken, einem zertrümmerten Ellbogen, einer gebrochenen Hüfte, gebrochenen Rippen und einer Gehirnerschütterung dort gefunden.
Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre gestorben. Die Ärzte hatten gestaunt, wie zäh sie war. Keiner aus der Familie kümmerte sich regelmäßig um sie, keiner kam auf die Idee, täglich bei ihr anzurufen. Niemand, auch er nicht, hätte sich Sorgen gemacht, wenn sie ein, zwei Tage nicht ans Telefon gegangen wäre.
Hester Landon: unabhängig, unbesiegbar, unverwüstlich.
Trotzdem wäre der böse Sturz tödlich ausgegangen, wenn diese Nachbarin und Hesters eiserner Wille nicht gewesen wären.
Im Moment erholte sie sich bei seinen Eltern von ihren Verletzungen. Dort würde sie bleiben, bis sie wieder zu Kräften gekommen war und nach Bluff House zurückkehren konnte – oder für immer, wenn es nach seinen Eltern ging.
Er stellte sie sich lieber hier vor, in dem Haus, das sie so liebte. Draußen auf der Terrasse mit ihrem allabendlichen Martini, während sie aufs Meer hinausschaute. Oder im Garten, während sie dort herumwerkelte, ihre Staffelei aufstellte.
Er wollte sich an die lebenslustige Person erinnern, nicht an das hilflose Wesen am Boden. Vermutlich hatte er sich zu dieser Zeit gerade seine zweite Tasse Kaffee gegönnt.
Er würde sich bemühen, ihrem Haus neues Leben einzuhauchen. Und sich auch.
Eli nahm seine Taschen und ging langsam nach oben. Er beschloss, das Zimmer zu nehmen, in dem er immer schlief, wenn er auf Besuch kam, auch wenn diese Besuche selten geworden waren. Lindsay hatte Whiskey Beach gehasst. Sie hatte Bluff House gehasst und seine Großmutter bekriegt, d ie stur höflich blieb, während der Ton seiner Frau immer abfälliger wurde. Und er hatte zwischen den Stühlen gesessen.
Deshalb hatte er sich für die einfachste Lösung entschieden – etwas, das er genauso bereuen konnte wie seine ausbleibenden Besuche und die Ausreden dafür. Aber rückgängig machen ließ es sich nicht mehr.
Er betrat das Zimmer. Dort erwarteten ihn ebenfalls Blumen und die vertrauten hellgrünen Wände mit den zwei Aquarellen seiner Großmutter, die ihm ganz besonders gefielen.
Er stellte seine Taschen auf die Bank am Fußende des antiken Betts und legte seinen Mantel ab.
Alles war beim Alten geblieben: das Tischchen unter dem Fenster, die breiten Terrassentüren, der Ohrensessel und der kleine Hocker mit dem Polster, das seine Großmutter vor langer Zeit selbst bestickt hatte.
Ihm fiel auf, dass er sich zum ersten Mal seit Langem wieder heimisch fühlte, zumindest beinahe. Er öffnete seine Tasche, nahm seinen Kulturbeutel heraus
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