Das Geheimnis der Wellen
einen Spaziergang haben, dürfen Sie gern bei mir vorbeischauen. Also dann, willkommen in Whiskey Beach, Eli.«
Sie nahm die Tür zum Innenhof und drehte sich noch einmal lächelnd um. »Essen Sie Ihr Frühstück«, befahl sie und verschwand.
Er starrte erst auf die Tür und dann auf seinen Teller. Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, griff er zur Gabel und aß.
2
Eli machte eine Runde durchs Haus, in der Hoffnung, so etwas wie eine Orientierung zu finden. Er hasste es, kein richtiges Ziel zu haben, sich einfach nur treiben zu lassen, entwurzelt zu sein. Früher hatte sein Leben eine feste Struktur gehabt, ein Ziel. Selbst als diese Struktur nach Lindsays Tod zusammengebrochen war, hatte er ein Ziel gehabt.
Wenn man gegen eine lebenslängliche Haftstrafe ankämpft, kann man das durchaus als Ziel begreifen.
Aber jetzt war die Bedrohung nicht mehr so unmittelbar. Welches Ziel verfolgte er nun? Seinen Roman fertig zu schreiben, rief er sich ins Gedächtnis. Er ertappte sich oft bei dem Gedanken, dass ihm das Schreiben half, der Realität zu entfliehen, und ihn so davor bewahrte, wahnsinnig zu werden.
Seine Wurzeln, wo lagen die? In Bluff House? War das wirklich so einfach?
Als Kind und junger Mann hatte er viel Zeit hier verbracht. Sommer um Sommer, denn der Strand war verführerisch nah. Aber auch viele Wintertage, an denen er zusah, wie der Sand langsam unter dem Schnee verschwand, bis nur noch die Felsspitzen herausragten.
Unbeschwerte Zeiten? Oder vielleicht doch nicht? Sandburgen bauen und Muscheln mit der Familie, mit Freunden essen. Segelausflüge mit seinem Großvater, mit der hübschen Schaluppe, die seine Großmutter nach wie vor im Hafen von Whiskey Bay liegen hatte. Und die lebhaften, geselligen Weih nachtsessen am knisternden Kaminfeuer.
Nie hätte er sich träumen lassen, wie ein Schatten seiner selbst durch diese Zimmer zu streifen und sich angestrengt die verblassten Bilder aus besseren Zeiten vor Augen zu rufen.
Im Schlafzimmer seiner Großmutter fiel ihm auf, dass sie ein paar Veränderungen vorgenommen hatte – die Wandfarbe, die Bettwäsche. Im Großen und Ganzen war jedoch alles beim Alten geblieben. Sein Blick fiel auf das große Himmelbett, in dem sein Vater wegen vorzeitiger Wehen in mitten eines Schneesturms zur Welt gekommen war. Das Hochzeitsfoto seiner Großeltern, auf dem sie jung und lebenslustig wirkten, stand wie immer in seinem silbernen Rahmen auf dem Schreibtisch. Auch der Blick aufs Meer, auf den Strand und die zerklüfteten Felsen der Bucht war noch derselbe.
Eli ging auf die Terrassentür zu, öffnete den Riegel und trat ins Freie.
Die Wellen schlugen hoch, aufgepeitscht von unerbitt lichem Wind, der nach Schnee schmeckte. An der äußersten Spitze des Festlands erhob sich auf einem kleinen Felsvorsprung der jungfräulich weiße Leuchtturm. Weit draußen auf dem Atlantik entdeckte Eli einen Punkt, ein Schiff, das sich seinen Weg durch die aufgewühlten Wassermassen bahnte.
Wohin wollte es? Was hatte es geladen?
Eli musste an ein Spiel aus Kinderzeiten denken. Es fährt nach Armenien, dachte er, und hat Artischocken an Bord.
Nach langer Zeit lächelte er erstmals wieder und zog die Schultern hoch, um sich vor der Kälte zu schützen.
Es fährt mit Bonbons beladen nach Brasilien. Nach China mit Cognac. Nach Dänemark mit Deodorant. Der Punkt verschwand, und Eli kehrte ins Warme zurück.
Er musste etwas tun. Am besten, er ging seine Sachen holen, packte aus, kam richtig an.
Später vielleicht.
Wieder lief er durchs Haus, bis ganz nach oben in den dritten Stock, der vor seiner Zeit Dienstboten beherbergt hatte.
Heute diente er als Abstellraum für alte, von Laken bedeckte Möbel und Kartons. Zumindest die großen Zimmer. Die Kammern, in denen Hausmädchen und Köche geschlafen hatten, standen leer. Nach wie vor ziellos lief er zur Fensterfront mit Meerblick und betrat das Erkerzimmer.
Das Zimmer der Hauswirtschafterin, dachte er. Oder hatte es dem Butler gehört? Er wusste es nicht, aber derjenige, der darin geschlafen hatte, war privilegiert gewesen. Er hatte sogar einen separaten Eingang und einen eigenen Balkon besessen.
Heute brauchte man nicht mehr so viel Personal und keinen dritten Stock. Er wurde weder gepflegt noch geheizt. Seine pragmatische Großmutter hatte ihn bereits vor Jahren abgeriegelt.
Vielleicht würde ihn eines Tages jemand einer neuen Bestimmung zuführen, ihn zu neuem Leben erwecken und die gespenstischen Laken abnehmen, ihm
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