Das Geheimnis meiner Mutter
zeitaufwendig der Vorgang ist. Backen ist ein Akt der Liebe, und wen kümmert es schon, wie lange Liebe dauert?
1. KAPITEL
J enny Majesky stand von ihrem Schreibtisch auf, streckte sich und massierte eine verspannte Stelle im unteren Rücken. Irgendetwas – vielleicht die tief greifende Stille des leeren Hauses – hatte sie um drei Uhr nachts geweckt. Einmal wach, hatte sie nicht wieder einschlafen können. In ihrem abgewetzten Bademantel und den flauschigen Hausschuhen hatte sie sich an ihren Laptop gesetzt und eine Weile an ihrer Zeitungskolumne gearbeitet. Im Moment ging es mit dem Schreiben allerdings nicht wesentlich besser als mit dem Schlafen.
Es gab so viel, was sie sagen wollte, so viele Geschichten zu erzählen, aber wie sollte sie es schaffen, die Erinnerungen und Küchenweisheiten eines ganzen Lebens in eine wöchentliche Kolumne zu pressen?
Andererseits hatte sie immer schon mehr schreiben wollen als nur eine Kolumne. Viel mehr. Sie erkannte, dass das Universum ihr langsam, aber sicher alle Entschuldigungen nahm. Sie sollte sich wirklich daranmachen, das Buch zu schreiben.
Wie jeder gute Autor versuchte Jenny, Zeit zu schinden. Träge nahm sie den Ehering ihrer Großmutter in die Hand, der in einem kleinen Porzellanschälchen auf dem Tisch gelegen hatte. Sie hatte noch nicht entschieden, was sie mit dem schmalen Goldreif tun wollte, den Helen Majesky fünfzig Jahre ihrer Ehe und weitere zehn Jahre ihrer Witwenschaft getragen hatte. Wenn sie backte, hatte Gran den Ring immer in ihre Schürzentasche gesteckt. Es war ein Wunder, dass sie ihn nie verloren hatte. Dennoch hatte Jenny ihr versprechen müssen, ihn nicht mit ihr zu begraben.
Sie drehte den Ring um die Spitze ihres Ringfingers und stellte sich die Hände ihrer Großmutter vor, wie sie fest und kräftig einen Teig kneteten oder leicht und sanft die Wange ihrer Enkelin streichelten oder ihre Stirn berührten, um zu sehen, ob sie Fieber hatte.
Jenny schob den Ring auf ihren Finger und ballte die Hand zu einer Faust. Sie hatte einen eigenen Ehering, den sie in einem Anflug von leichtfertiger Hoffnung angenommen, aber nie getragen hatte. Er lag nun ganz unten in einer Schublade, die Jenny nie öffnete.
Es war schwer, in dieser samtschwarzen Stunde nicht all ihre Verluste aufzuzählen – ihre Mutter, die sie verlassen hatte, als Jenny noch ganz klein gewesen war. Dann Jennys Großvater und schließlich der vielleicht wichtigste Mensch in ihrem Leben, ihre Granny.
Erst wenige Wochen waren vergangen, seitdem Jenny ihre Großmutter zur letzten Ruhe gebettet hatte. Die anfängliche Flutwelle an Beileidsanrufen und Besuchen war abgeebbt, und Jenny fühlte es bis in ihre Knochen: Sie war wirklich allein. Ja, sie hatte Freunde, die sich um sie sorgten, und Mitarbeiter, die wie eine Familie für sie waren. Aber ihr fehlte die ständige Präsenz ihrer Großmutter, die sie wie eine Tochter aufgezogen hatte.
Aus Gewohnheit sicherte sie ihre Arbeit auf dem Laptop. Dann zog sie den Bademantel enger um sich herum und trat ans Fenster. Die Wange an die kalte Scheibe gedrückt, schaute sie in die Winternacht hinaus. Der Schnee hatte alle harten Ecken und Farben der Landschaft ausgelöscht. Mitten in der Nacht war die Maple Street vollkommen verlassen. Nur die einsam in der Mitte des Häuserblocks stehende Straßenlaterne warf ihr fahles gelbes Licht auf den Gehsteig. Jenny hatte ihr ganzes Leben hier verbracht. Unzählige Male hatte sie genau an dieser Stelle gestanden, darauf gewartet, dass … was? Dass sich irgendetwas änderte. Begann.
Sie stieß einen rastlosen Seufzer aus. Das Fenster beschlug von ihrem Atem. Das Schneegestöber hatte sich zu dicken Flocken gewandelt, die um das Licht der Straßenlaterne herumtanzten. Jenny liebte den Schnee, schon immer. Beim Blick auf die zugedeckte Landschaft konnte sie sich als Kind vor sich sehen, wie sie gemeinsam mit ihrem Großvater zum Schlittenhügel gestapft war. Sie war wortwörtlich in seine Fußstapfen getreten und von einem tiefen Stiefelabdruck in den nächsten gesprungen, wobei sie den leichten Plastikschlitten an einem Band hinter sich herzog.
Ihre Großeltern waren in jedem wichtigen Augenblick ihrer Kindheit bei ihr gewesen. Jetzt, wo sie fort waren, gab es niemanden, der die Erinnerungen mit ihr teilte, der sie anschaute und sagte: „Weißt du noch, wie du …“
Ihre Mutter war gegangen, als Jenny vier gewesen war. Ihr Vater war ein nahezu Fremder, den sie erst vor sechs Monaten
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