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Korridore der Zeit

Korridore der Zeit

Titel: Korridore der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Poul Anderson
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1
     
     
    Der Wärter sagte: »Sie bekommen Besuch.«
    »Was? Wer?« Malcolm Lockridge erhob sich von seiner Pritsche. Er hatte stundenlang gelegen und versucht, sich mit einem Lehrbuch zu beschäftigen, um sich auf dem laufenden zu halten, aber zumeist war sein Blick auf den Spalt an der Decke gerichtet gewesen, und Bitterkeit hatte seine Gedanken verwirrt. Außerdem lenkten ihn die Geräusche und Gerüche aus den andern Zellen zu sehr ab.
    »Keine Ahnung.« Der Wärter schnalzte mit der Zunge. »Aber sie ist ein Prachtstück.«
    Verwirrt setzte Lockridge sich in Marsch. Der Wärter trat ein wenig zurück. Es war nicht schwer, seine Gedanken zu erraten: Vorsicht, der Bursche dort ist ein Mörder! Nicht, daß Lockridge einen gewalttätigen Eindruck machte. Er war 25 Jahre alt, mittelgroß, hatte kurzgeschnittenes sandfarbenes Haar, blaue Augen in einem gutgeschnittenen Gesicht und eine etwas zu klein geratene Nase. Aber seine Brust und die Schultern waren breiter, Arme und Beine stämmiger als die der meisten Männer, obwohl er sich mit der Geschmeidigkeit einer Wildkatze bewegte.
    »Sie brauchen keine Angst zu haben, mein Sohn«, sagte er spöttisch.
    Das Gesicht des Wärters lief dunkel an. »Halten Sie Ihre Zunge im Zaum«, sagte er warnend.
    Er hat recht, dachte Lockridge. Warum lasse ich meine Stimmung an ihm aus? Bis jetzt hatte ich keinen Grund, mich über ihn zu beklagen. Andererseits, an wem soll ich mich sonst schadlos halten?
    Sein Ärger verrauchte, während seine Schritte von dem langen Gang widerhallten. Im monotonen Ablauf der vergangenen beiden Wochen war jede Abwechslung willkommen. Selbst eine Unterhaltung mit seinem Anwalt bedeutete ein Ereignis, wenn er auch mit einer schlaflosen Nacht dafür zahlen mußte, weil er die kaum verhüllte Abneigung des Anwalts, sich ernsthaft mit seinem Fall zu befassen, nicht vergessen konnte. Nun fragte er sich, wer heute sein Besucher sein mochte. Ein Prachtstück, wie der Wärter sich ausgedrückt hatte – eine seiner Freundinnen hatte ihn besucht, und man konnte sie als hübsch bezeichnen, aber sie war nach einer wenig erfreulichen ›Wie konntest du nur?-Szene‹ gegangen, und er rechnete nicht damit, sie noch einmal zu sehen. Eine Reporterin? Nein, die ortsansässigen Zeitungen hatten ihn längst alle interviewt.
    Er betrat den Besucherraum. Durch ein Fenster zur Straße drang Verkehrslärm. Ein Park jenseits der Straße, Bäume in frischem Grün, ein unvorstellbar blauer Himmel mit schnell vorüberziehenden kleinen Wolken und einem Hauch von Frühling ließen Lockridge den Gestank, aus dem er kam, doppelt empfinden. Zwei Wärter wachten über die Menschen, die sich an den langen Tischen gegenübersaßen und sich leise unterhielten.
    »Dort drüben«, sagte Lockridges Begleiter.
    Er wandte sich um und sah sie. Sie stand neben dem Stuhl, den man ihr zugewiesen hatte. Sein Herz begann zu hämmern.
    Sie war nicht kleiner als er. Ein raffiniert einfaches und offensichtlich sehr teures Kleid umschloß eine Figur, die einer Meisterschwimmerin oder der Jagdgöttin Diana gehören mochte. Sie trug den Kopf hoch, schwarzes Haar fiel ihr bis auf die Schultern, ein verirrter Sonnenstrahl ließ es wie Seide schimmern. Er wußte nicht, welcher Teil der Welt ihr Gesicht geformt hatte – geschwungene Brauen über leicht schräggestellten grünen Augen, hohe Backenknochen, eine gerade Nase, Mund und Kinn, die gewohnt schienen, zu befehlen, eine Haut von schwachem Bronzeton.
    »Mr. Lockridge«, sagte sie, und es war keine Frage. Ihr Akzent verriet ihm nichts, höchstens, daß ihre Aussprache fast ein wenig zu korrekt war. Ihre Stimme klang tief und voll.
    »J – ja«, sagte er zögernd. »Und ...«
    »Ich bin Storm Darroway. Setzen wir uns?« Sie nahm Platz, als bestiege sie einen Thron, und öffnete ihre Handtasche. »Möchten Sie eine Zigarette?«
    »Danke«, sagte er automatisch. Sie hielt ihm die Flamme eines goldenen Feuerzeuges entgegen, rauchte aber selbst nicht.
    »Ich fürchte, ich hatte nicht das Vergnügen, Sie kennenzulernen«, fuhr Lockridge fort und setzte, nach einem Blick auf ihre linke Hand hinzu: »Miß Darroway.«
    »Nein, natürlich nicht.« Sie schwieg und musterte ihn mit ausdrucksloser Miene. Er drehte die Zigarette nervös zwischen den Fingern. Sie lächelte, ohne daß sich ihre Lippen teilten. »Ich entdeckte in einer Chicagoer Zeitung eine Meldung über Sie, die mich interessierte. Also kam ich her, um mehr zu erfahren. Sie scheinen ein Opfer

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