Das Geheimnis meiner Mutter
glich.
Schwere Stiefel hatten den Schnee am Rand des Grundstücks niedergetrampelt. Die Luft roch nach nasser Kohle. Ein strenger, stechender Angriff auf die Nasenlöcher.
„Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll“, sagte Jenny. „Interessante Frage, oder? Wenn man alles in einem Feuer verliert, was ist dann das Erste, das man sich kauft?“
„Eine Zahnbürste“, sagte er, als wäre das die einfachste Antwort der Welt.
„Das werde ich mir merken.“
„Es gibt eine Methode. Der Schadensachbearbeiter wird dir eine Bergungsfirma nennen, und die werden dir bei den weiteren Schritten helfen.“
Auf der Straße rollten ein paar Autos langsam vorbei. Sie konnte die neugierigen Blicke von Passanten fühlen. Die Menschen starrten immer auf das Unglück anderer Leute und atmeten erleichtert auf, dass es nicht sie getroffen hatte.
Kurze Zeit später fuhren der Brandermittler und der Schadensachbearbeiter der Versicherung vor. Jenny zog sich die Schutzausrüstung über und folgte den Männern die Planke hinauf, die als Ersatz für die Treppe zur Eingangstür führte. Sie erkannte den Grundriss der Räume, sah die verschmutzten Überreste vertrauter Möbel und Gegenstände. Das gesamte Haus hatte sich in ein außerirdisches Gebiet verwandelt.
Sie war die Außerirdische. Sie erkannte sich selber nicht, als sie tonlos die Fragen zu dem Ablauf der vorletzten Nacht beantwortete. Sie beantwortete so viele Fragen, bis sie das Gefühl hatte, ihr Kopf würde explodieren. Die Ermittler gingen alle gängigen Szenarios durch. Sie war nicht mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen. Die einzige Sünde, die sie begangen hatte, war unabsichtlich und aus Unachtsamkeit geschehen. Sie versuchte, sich aus der Situation zu lösen, so zu tun, als würde jemand anders erklären, dass sie noch spät an ihrem Computer gearbeitet hatte. Dass sie unruhig gewesen war und beschlossen hatte, in die Bäckerei zu gehen, weil sie wusste, dass sie dort auf Menschen treffen würde. Sie beantwortete die Fragen so wahrheitsgetreu wie möglich – nein, sie konnte sich nicht daran erinnern, irgendwelche Elektrogeräte angelassen zu haben, weder die Kaffeemaschine noch den Föhn, den Toaster, den Ofen. Sie hatte auch den Herd nicht angemacht, keine Kerze brennen lassen, ja, sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wo sie ihre Streichhölzer aufbewahrte. (Unter der Spüle, wie der Techniker des Brandermittlungsteams sie informierte.) Ihre Großmutter hatte immer Votivkerzen in die Kirche gebracht und sie Reihe um Reihe vor der Statue des Heiligen Kasimir angezündet, des Schutzpatrons Polens und aller Junggesellen.
„Oh, nein“, flüsterte sie.
„Miss?“, fragte der Brandermittler.
„Ich war es“, sagte sie. „Das Feuer war meine Schuld. Meine Großmutter hatte eine kleine Zinndose mit Sachen aus Polen – Briefe, Rezepte, Zeitungsartikel. In der Nacht des Feuers war ich … ich konnte nicht schlafen, also habe ich ein wenig für meine Kolumne recherchiert. Ich habe die Dose herausgeholt und … oh Gott.“ Sie hielt inne; ihr war schlecht vor Schuld.
„Und was?“, hakte er nach.
„Ich habe in der Nacht eine Taschenlampe benutzt. Die Batterien waren leer, also habe ich die aus dem Rauchmelder in der Küche genommen und vergessen, sie wieder zurückzustecken. Ich habe den Rauchmelder deaktiviert.“
Rourke schien davon unbeeindruckt. „Da bist du nicht die Erste.“
„Aber das heißt doch, dass das Feuer mein Fehler war.“
„Ein Rauchmelder funktioniert nur, wenn auch jemand in der Nähe ist, der ihn hört“, versuchte Rourke, sie zu beruhigen. „Selbst wenn er die ganze Nacht geheult hätte, wäre das Haus niedergebrannt. Du warst ja nicht hier, um den Alarm zu hören, also ist es auch egal.“
Oh, sie wollte so sehr, dass er recht hatte. Sie wollte nicht verantwortlich sein für die Zerstörung ihres Hauses. „Ich habe den Alarm schon mal losgehen hören“, sagte sie. „Er ist laut genug, um die ganze Nachbarschaft zu wecken.“
„Es ist nicht dein Fehler, Jen.“
Sie dachte an die kleine Dose mit den unersetzbaren Dokumenten und Schriften auf hauchdünnem Papier. Diese Schätze waren nun für immer vernichtet. Sie fühlte sich, als hätte sie ihre Großmutter erneut verloren. Mit großer Willensanstrengung versuchte sie, sich zusammenzureißen. Sie schaute auf den Kamin, sah vor ihrem inneren Auge die ganzen Weihnachtsfeste, die sie in diesem Haus gefeiert hatte. Seitdem ihre Großmutter gestorben war,
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