Was die Nacht verheißt
1
März 1803
Die Nächte waren immer am schlimmsten. Brandy schaute durch die wellige Scheibe hinaus, die die Dunkelheit verzerrte, sah nur ihr müdes Spiegelbild und fragte sich, wie lange sie dies wohl noch ertragen würde.
So lange sie sich erinnern konnte, hatte Brianne Winters jeden Tag ihres neunzehnjährigen Lebens gearbeitet - vom ersten Morgengrauen, bis die Dunkelheit die Butzenscheiben des Wirtshauses zum Weißen Pferd mit einem schwarzen Vorhang verhüllte.
»Brandy, Mädchen, hör besser auf mit dem Tagträumen und geh wieder an die Arbeit. Dein Vater kommt jeden Augenblick zurück, und draußen sitzen Gäste mit leeren Krügen.« Ihre beste Freundin, Florence Moody, eine schlanke, dunkelhaarige Frau, die sechs Jahre älter war als Brandy, stand in der Küchentür, das schmale Gesicht beinah nicht zu erkennen vor Dampf. Sie hatten schon so lange zusammengearbeitet, dass ihr Flo mehr wie eine Mutter oder eine ältere Schwester vorkam als nur wie eine Freundin.
Brandy lächelte. »Entschuldige, ich hatte eigentlich gar nicht vorgehabt, so lange wegzubleiben. Der alte Salty Jackson ist wieder im Hafen. Er hat mir von seiner Fahrt herunter von Halifax erzählt. Sie scheinen in einen Sturm geraten zu sein, und einer der Masten ist gebrochen. Der Kahn wäre beinah gesunken.«
Flo wischte sich die Hände an der Schürze über ihrem Rock ab. »Der alte Salty konnte immer schon gut erzählen. Mach dir keine Sorgen. Es kommt gerade neue Kundschaft. Die Fairwind ist angekommen, und die Mannschaft geht an Land. Mit denen haben wir heute Abend genug zu tun, wenn man bedenkt, dass sie fast zwei Monate auf See waren.«
Brandy seufzte und ging zurück in den rauchigen, schwach beleuchteten Schankraum. »Ich schwöre dir, dass Daltons Mannschaft die schlimmste von allen ist. Auf die freue ich mich wirklich nicht.« Das Wirtshaus war beinah hundert Jahre alt und besaß eine schwere Eichenbalkendecke und Fußböden aus Steinplatten. Zinnleuchter hingen an der Wand und warfen Kerzenlicht und Schatten auf das vom Rauch geschwärzte Holz. Obwohl ihr Vater das alte Haus liebte, hasste Brandy es. Es war mickrig, fand sie, roch nach schalem Bier, und die Wände waren kalt und feucht.
»Sie sind ein wilder Haufen«, sagte Flo, »das steht fest. Bis morgen früh haben wir blaue Flecken auf der Rückseite, vom Hintern bis zu den Knien.«
»Ich nicht. Ich habe die Nase gestrichen voll von diesen grapschenden Matrosen mit ihrem Gekneife. Der Erste, der mich anfasst, bekommt das Gewicht eines Bierkrugs mit Schwung an den Kopf.«
Flo lachte nur. »Das würde deinem Papa aber nicht besonders gefallen. Ist nicht gut fürs Geschäft. Er hat’s gern, wenn wir die Matrosen bei Laune halten.«
Aber Brandy war es eigentlich egal, was ihrem Vater gefiel. Ihm lag ganz sicher nicht das Geringste an dem, was sie wollte oder nicht wollte. Das Einzige, an dem ihm lag, waren sein dummes Wirtshaus und noch mehr Geld.
»Ich bin Big Jake Winters«, pflegte er zu sagen, »Besitzer des Weißen Pferds, des besten Wirtshauses am Kai von Charleston. « Er war immer so stolz auf das Ding, ein Vermächtnis, das er für seinen Sohn aufbaute. Nur dass der große Jake nie einen Sohn gehabt hatte.
In Wahrheit war seine Frau bei der Geburt seines einzigen Erben gestorben, einer zarten Tochter, die genau das gleiche rotgoldene Haar wie Ellen Winters hatte. Sie hatte absolut nichts gemeinsam mit dem großen, starken Jungen, den Jake so verzweifelt gewollt hatte. Eine zweite Frau hatte ihm wieder ein Mädchen geboren, das sogar noch kleiner gewesen war als Brandy und so schwach, dass es nicht einmal den ersten kalten Winter überlebt hatte. Frances Winters war am Gelbfieber gestorben, als Brandy zehn Jahre alt war, und Big Jake hatte schließlich akzeptiert, dass es so Gottes Wille war.
Er musste sich der bitteren Wahrheit stellen, dass er nie einen Sohn haben würde. Er würde sich mit einer Tochter zufrieden geben müssen, aber Jakes Abneigung dagegen hing wie eine riesige dunkle Wolke jede Minute eines jeden Tages über Brandys Kopf.
»Du warst doch heute Morgen auf dem Markt, oder?«, fragte sie Flo. In einem einfachen braunen Rock, der ein bisschen zu viel Knöchel sehen ließ, einem geschnürten Oberteil und einer bauschigen weißen Bauernbluse, die so ausgeschnitten war, dass die obere Rundung ihrer Brüste zu sehen war - der Hauskleidung der Bedienungen im Weißen Pferd -, beugte sich Brandy über einen zerkratzten Holztisch, um die Reste von
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