Das Gelübde
Verstand habe darunter gelitten. Was aber, wenn die Erklärung viel einfacher ist? Wenn Brentano, der sich als junger Mann Hunderter Liebschaften gebrüstet hatte, am Krankenlager der Anna Katharina Emmerick etwas fand, das er seit dem Tod seiner ersten Frau Sophie so schmerzlich vermißt hatte? Wenn er sich, zum ersten Mal seit vielen Jahren, wieder ernsthaft verliebte?
Die Wahrheit bleibt offen zur Interpretation. Die katholische Kirche hat in den zahllosen Schriften, die in ihrem Namen oder von ihren Anhängern über das Phänomen der Anna Katharina Emmerick verfaßt wurden, niemals eingestanden, daß es etwas anderes gewesen sein könnte als christliche Demut, die Brentano in Dülmen hielt. Die kirchliche Variante hat fraglos eine Berechtigung – ich erlaube mir allerdings, meine die menschlichere zu nennen.
Kai Meyer, Juni 1991
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