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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sagen, würden Sie meine Träume kennen.«
    Er setzte sich auf den Stuhl und suchte etwas in seiner Arzttasche. »Wovon träumen Sie denn? Von Anna?«
    Ich zog es vor, erst einmal abzuwarten, welches Bild er sich von den Ereignissen im Kirchturm gemacht hatte. Gewiß keines, das mich allzugut dastehen ließ.
    Er zog ein Fläschchen aus seiner Tasche, entkorkte es und träufelte eine nußfarbene Flüssigkeit auf einen Blechlöffel.
    »Hier«, sagte er, »schlucken Sie das.«
    »Was ist das?« Ich rührte den Löffel nicht an.
    Wesener seufzte. »Ich habe es Ihnen drei Tage lang mit meinen Fingern eingeflößt. Sie werden also nicht auf der Stelle sterben, wenn Sie es nun aus eigener Kraft hinunterschlucken.
    Es hilft Ihnen.«
    Ein wenig beschämt tat ich, was er verlangte, und wunderte mich, daß die Medizin nicht halb so widerwärtig schmeckte, wie ich erwartet hatte. »Mischen Sie die selbst?«
    »Sicher.«
    »Was ist da drin?«
    »Ich glaube nicht, daß Sie das wirklich wissen wollen. Aber es bringt Ihre Lunge wieder auf Trab.«
    Nach einer Pause, während der er meine Stirn mit einem feuchten Tuch abtupfte und fühlte, ob ich noch Fieber hatte, sagte ich: »Sie haben keine besonders hohe Meinung von mir, nicht wahr?«
    »Wie kommen Sie nur darauf?« Ohne mich anzuschauen, kritzelte er irgendwelche Notizen in ein kleines Büchlein.
    »Was haben Sie eigentlich mit Ihren Füßen gemacht?«
    Ich schaute schuldbewußt auf die Blutflecken im Laken. »Ich wollte aufstehen.«
    »Keine Selbstverstümmelung?«
    »Keine was?«
    »Schon gut, Sie wären auch nicht der Mensch dafür.«
    »Sie haben geglaubt, ich hätte mir absichtlich die Füße zerschnitten?«
    »Es wäre nicht das erste Mal«, meinte er schulterzuckend.
    »Es hat Fälle gegeben, in denen jemand nach seiner ersten Begegnung mit dem Fräulein Emmerick so etwas getan hat.
    Das waren allerdings strenggläubige Christen, die nicht einsehen wollten, weshalb der Herr ausgerechnet ihnen keine Stigmata schenkt.«
    »Sie sind doch Arzt, Doktor Wesener. Wie können Sie da ohne jeden Zynismus aussprechen, daß einem solche Verletzungen geschenkt werden?«
    »Wir wollen doch jetzt keine religiöse Diskussion führen, Herr Brentano. Ich glaube, daran sind in den vergangenen Tagen schon andere gescheitert.«
    »Weil sie mich nicht von ihrem Glauben überzeugen konnten?«
    »Weil sie Sie nicht überzeugen konnten, daß die Liebe, die man unwillkürlich zum Fräulein Emmerick empfindet, von Gott kommt, nicht aus der Leistengegend.«
    »Ich glaube, Sie unterliegen…«
    »Einem Mißverständnis?« Er lächelte bitter. »Sie haben sie dort oben geküßt. Haben Sie das schon vergessen? Pater Limberg war sogar der Überzeugung, Sie hätten ihr Blut getrunken. Aber ich denke, das konnte ich ihm ausreden. Er hat einen Brief an Ihren Bruder aufgesetzt.«
    »Ich bin kein Kind mehr. Und Christian ist nicht mein Vater.
    Wenn Pater Limberg der Ansicht ist, er müsse sich bei irgend jemandem über mich beschweren, warum tut er es dann nicht beim Herrgott? Der ist ja wohl der einzige, den die Schuld an diesem Dilemma trifft.«
    Wesener hob die Decke am Fußende und begutachtete meine Sohlen. »Ein interessanter Standpunkt, gewiß. Aber sicher keiner, der einer genauen Betrachtung standhalten könnte.«
    Mit einem feuchten Lappen tupfte er das getrocknete Blut von meinen Füßen. »Tut das weh?«
    »Nein.« Es brannte, aber ich war zu stolz, das zuzugeben. Ich bin kein Kind mehr. Von wegen. Wenn mein Stolz nicht kindisch war, was sonst?
    Wesener steckte die Hand in seine Arzttasche. Als er sie wieder hervorzog, war sein Zeigefinger voller Salbe. Sorgsam massierte er damit meine Fußsohlen. »Das sind nur Kratzer«, sagte er, »keine tiefen Schnitte. Sie haben Glück gehabt.«
    »Mehr als Anna, wie ich hörte.«
    Er hielt einen Moment lang inne und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Der Abbé hat mit Ihnen gesprochen?«
    »Wie geht es ihr?«
    »Wenn ich das nur wüßte.« Zum ersten Mal bröckelte seine Fassade ärztlicher Überlegenheit. Er massierte die Salbe jetzt sehr viel langsamer ein. »Der Medizinalrat und seine Leute haben sie seit zwei Tagen in der Mangel. Ich habe versucht, vorgelassen zu werden, ohne Erfolg. Das ist, als würden die sie bei lebendigem Leibe einmauern.«
    »Was tun die mit ihr?«
    »Ich kann nur raten. Sicher wird sie Tag und Nacht genau beobachtet, und wahrscheinlich wird man versuchen, sie am Schlafen zu hindern.«
    Ein heftiges Zittern durchlief

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