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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk
Autoren: Wolfgang Borchert
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dem Mund und die Hände halten Handgranaten. Aber da schmeckte er die Schminke und ihre Hand umgriff seinen mageren Arm. Dann stöhnte es und ein Stahlhelm fiel und ein Auge brach.
    Du stirbst, schrie er.
    Sterben, jauchzte sie, das wär was, du.
    Da schob sie den Stahlhelm wieder in die Stirn. Ihr dunkles Haar glänzte matt.
    Ach, dein Haar, flüsterte er.
    Bleibst du? fragte sie leise.
    Ja.
    Lange?
    Ja.
    Immer?
    Dein Haar riecht wie nasse Zweige, sagte er.
    Immer? fragte sie wieder.
    Und dann aus der Ferne: naher dicker großer Schrei.Fischschrei, Fledermausschrei, Mistkäferschrei. Niegehörter Tierschrei der Lokomotive. Schwankte der Zug voll Angst im Geleise vor diesem Schrei? Nievernommener neuer gelbgrüner Schrei unter erblaßtem Gestirn. Schwankten die Sterne vor diesem Schrei?
    Da riß er das Fenster auf, daß die Nacht mit kalten Händen nach der nackten Brust griff und sagte: Ich muß weiter.
    Bleib doch, Giraffe! Ihr Mund schimmerte krankrot im weißen Gesicht.
    Aber die Giraffe stelzbeinte mit hohlhallenden Schritten übers Pflaster davon. Und hinter ihm sackte die mondgraue Straße wieder stummgeworden in ihre Steineinsamkeit zurück. Die Fenster sahen reptiläugig tot wie mit Milchhauch verglast. Die Gardinen, schlafschwere heimlich atmende Lider, wehten leise. Pendelten. Pendelten weiß, weich und winkten wehmütig hinter ihm her.
    Der Fensterflügel miaute. Und es fror sie an der Brust. Als er sich umsah, war hinter der Scheibe ein zu roter Mund. Giraffe, weinte der.

Vorbei vorbei
    Manchmal traf er sich selbst. Er kam mit weichem Schritt schiefschultrig auf sich zu, seine Haare waren übermäßig lang, daß sie das eine Ohr überhingen, er gab sich die Hand, nicht sehr fest, und sagte: Tag.
    Tag. Wer bist du?
    Du.
    Ich?
    Ja.
    Und dann sagte er zu sich selbst: Warum schreist du manchmal?
    Das ist das Tier.
    Das Tier?
    Das Tier Hunger.
    Und dann fragte er sich: Warum weinst du oft?
    Das Tier! Das Tier!
    Das Tier?
    Das Tier Heimweh. Das weint. Das Tier Hunger, das schreit. Und das Tier Ich – das türmt.
    Wohin?
    Ins Nichts. Es gibt kein Tal für eine Flucht. Überall treff ich mich. Am meisten in den Nächten. Aber man türmt immer weiter. Das Tier Liebe greift nach einem, aber das Tier Angst bellt vor den Fenstern, dahinter das Mädchen und sein Bett stehen. Und dann kichert der Türdrücker und man türmt. Und immer ist man hinter sich her. Mit dem Tier Hunger im Bauch und mit dem Tier Heimweh im Herzen. Aber es gibt kein Tal für eine Flucht. Immer trifft man sich. Überall. Man kann sich nicht entgehen.
    Manchmal traf er sich selbst. Aber dann türmte er wieder. Unter Fenstern pfeifend vorbei und an Türen hustend entlang. Und manchmal, dann hielt ihn ein Herz für die Nacht,eine Hand. Oder ein Hemd, das verrutscht war von einer Schulter, von einer Brust, von einem Mädchen. Manchmal, dann hielt ihn eine für eine Nacht. Und dann vergaß er zwischen den Küssen den andern, der er selbst war, wenn eine ganz für ihn war. Und lachte. Und litt. Es war gut, wenn man eine bei sich hatte, eine mit langen Haaren und heller Wäsche. Oder Wäsche, die mal hell war und mit Blumen drauf. Und wenn sie noch ein Stück Lippenstift hatte, dann war das gut. Dann war doch was bunt. Und im Finstern war es besser, wenn man eine bei sich hatte, dann war das Finstersein nicht so groß. Und dann war das Finstersein auch nicht so kalt. Und das Stück Lippenstift malte dann einen kleinen Ofen aus ihrem Mund. Der brannte dann. Das war gut im Finstersein. Und die Wäsche, die sah man eben nicht. Aber man hatte doch einen bei sich.
    Eine hat er gekannt, deren Haut war im Sommer wie Hagebutten. Bronzen. Und ihr Haar hatte sie von Zigeunern, mehr blau als schwarz. Und es war wie Wald: wirr. Auf ihrem Arm waren wie Kükenfedern helle Härchen und ihre Stimme war anzüglich wie von Hafenmädchen. Dabei wußte sie von nichts. Und hieß Karin.
    Und die andere hieß Ali und ihr butterblondes Haar war hell wie Seesand. Beim Lachen machte sie die Nase sehr kraus und sie biß. Aber dann kam einer, der war ihr Mann.
    Und vor einer Tür stand immer kleiner werdend ein Mann, grau und mager, und sagte: Ist gut, mein Junge. Später wußte er: Das war mein Vater.
    Und die mit den Beinen, die wie Trommelstöcker unruhig waren, hieß Carola, rehbeinig, nervös. Und ihre Augen machten verrückt. Und ihre Zähne standen vorne leicht auseinander. Die kannte er.
    Und der alte Mann sagte nachts manchmal: Ist gut, mein Junge.
    Eine war breit in
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