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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk
Autoren: Wolfgang Borchert
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da schwatzendie Toten, die unsterblichen Toten, vom unsterblichen Leben! Denn die Toten vergessen das Leben nicht – und sie können die Stadt, ihre Stadt, nicht vergessen!

    H a m b u r g !
    Das sind diese ergrauten, unentbehrlichen, unvermeidlichen Unendlichkeiten der untröstlichen Straßen, in denen wir alle geboren sind und in denen wir alle eines Tages sterben müssen – und das ist doch unheimlich viel mehr als nur ein Haufen Steine!
    Gehe hindurch und blähe deine Nasenlöcher wie Pferdenüstern: Das ist der Geruch des Lebens! Windeln, Kohl, Plüschsofa, Zwiebeln, Benzin, Mädchenträume, Tischlerleim, Kornkaffee, Katzen, Geranien, Schnaps, Autogummi, Lippenstift – Blut und Schweiß – Geruch der Stadt, Atem des Lebens: Mehr, mehr als ein Haufen Steine! Das ist Tod und Leben, Arbeit, Schlaf, Wind und Liebe, Tränen und Nebel!
    Das ist unser Wille, zu sein: Hamburg!

Billbrook
    Der kanadische Fliegerfeldwebel, der am späten Abend in Hamburg ankam, setzte seinen schweren Koffer in der Bahnhofshalle auf die Steinfliesen. Er blies die Backen auf und pustete. Er blies einen langen Puster vor sich hin, aber man konnte nicht unterscheiden, ob er es tat, weil die Luft so schlecht war oder weil ihn schwitzte. Die linke und die rechte Hand verschwanden in den Hosentaschen und erschienen mit Feuerzeug und Zigarettenschachtel wieder aus der Versenkung im Tageslicht. Nein, nicht im Tageslicht. Im Lampenlicht. Im trüben dunstigen blinden feuchten Lampenlicht des nächtlichen Bahnhofes. Dann knabberte er sich mit den Zähnen eine Zigarette aus der Papierhülle und ließ sein Feuerzeug Klick machen. Das Feuerzeug machte sein einstudiertes kleines Klick und die dünne gelbe weiche Zunge der Flamme verbrannte den dunkelroten schmalen Schnurrbart des Feldwebels. Sie verbrannte den Schnurrbart nicht schlimm. Aber ihm stieg doch ein unverkennbarer Brandgeruch in die Nase. Als ob Gummi angebrannt wäre. Gummi? dachte er. Er kam nicht darauf, daß versengte Haare ähnlich riechen. Aber auch das «Gummi» dachte er nur so nebenbei. Die Zigarette blieb ungeraucht. Sie lag weiß, merkwürdig neu und sauber auf dem dunklen Boden. Sie war ihm aus dem Mund gefallen. Seine Lippen standen etwas offen. Und er vergaß, das Feuerzeug wieder zuklicken zu lassen. Die kleine Flamme kroch vergessen und verschmäht in den Docht zurück. Er vergaß auch, an Hand seines Taschenspiegels die Verheerungen seines Bartes zu untersuchen. Er vergaß tatsächlich seinen versengten verheerten roten schmalen Schnurrbart und das wäre ihm selbst äußerst erstaunlich vorgekommen, wenn er sich beobachtet hätte. Denn auf seinen Bart, der so verrostet rot unddoch so vornehm war mit seiner Schmalheit, auf diesen vornehmen verrosteten Bart hielt er viel. Alles, eigentlich. Und jetzt war er bestimmt verdorben und er nahm nicht einmal den Spiegel aus der Tasche, um sich das anzusehen. Statt dessen ließ er Lippen und Feuerzeug weit offen stehen und eine weiße neue Zigarette auf der Erde liegen. Statt dessen vergaß er Lippen, Feuerzeug, Zigarette. Vergaß Koffer, Kanada, Bart und Brandgeruch. Vergaß und machte den Mund auf. Und sah unentwegt auf ein großes Emailleschild mit vielen unverständlichen schwarzbuchstabigen Worten. Sah unentwegt auf das eine Wort mit den neun schwarzgelackten Buchstaben. Denn dieses Wort, diese neun Buchstaben, dieses neunbuchstabige schwarzlackige Wort war sein Name. Er machte die Augen ganz klein und riß sie plötzlich wieder weit auf. Sein Name blieb. Neun schwarze Buchstaben, lackblank, auf einem großen weißen Emailleschild mit vielen anderen unverständlichen schwarzbuchstabigen Worten. Er sah auf das Schild. Mein Name, dachte er. Ganz klar, ganz offensichtlich. Und in Lack und Emaille. Verrückt, dachte er, verrückt. In Lack und Emaille. Irrsinnig! Blödsinnig! Wahnsinnig! Er war in seinem sechsundzwanzigjährigen Leben zum ersten Male in Hamburg. Er war zum ersten Male in diesem Bahnhof, in dieser Bahnhofshalle, unter dieser blinden Bahnhofslampe, auf diesen stumpfen Bahnhofsfliesen. Und nun stand da, eben hier, wo er zum ersten Male war, sein Name. In Lack und Emaille. Ja, sein Name stand da plötzlich. Das heißt, nicht plötzlich, denn er mußte wohl schon länger so da stehen. Nur für ihn sehr plötzlich. Für ihn sehr plötzlich in schwarz und auf weiß, in Lack und Emaille. Schwarzbuchstabig auf einem weißen Schild stand er da, der Name, der sein Name war, so einfach: Billbrook. Stand da. Stand da
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