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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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den Hüften, bei der war er. Sie roch nach Milch. Ihr Name war brav – aber er hat ihn vergessen. Vorbei. Morgens sangen manchmal die Goldammern erstaunt – aber seine Mutter war weit weg und der graue magere Mann sagte nichts. Denn keiner kam vorbei.
    Und die Beine gingen unter ihm ganz von selbst: vorbei vorbei.
    Und die Goldammern wußten schon morgens: vorbei vorbei.
    Und die Telegrafendrähte summten: vorbei vorbei. Und der alte Mann sagte nichts mehr: vorbei vorbei.
    Und die Mädchen hielten abends die Hände auf die sehnsüchtige Haut: vorbei vorbei.
    Und die Beine gingen von ganz alleine: vorbei vorbei.
    Einmal hatte man einen Bruder. Mit dem war man Freund. Aber dann surrte sich summend wie ein gehässiges Insekt ein Stück Metall durch die Luft auf ihn zu. Es war Krieg. Und das Stück Metall klitschte wie ein Regentropfen auf die menschliche Haut: Da blühte das Blut wie Klatschmohn im Schnee. Der Himmel war aus Lapislazuli, aber den Schrei nahm er nicht an. Und der letzte Schrei, den er schrie, hieß nicht Vaterland. Der hieß nicht Mutter und nicht Gott. Der letzte geschriene Schrei war sauer und scharf und hieß: Essig. Und war nur leise geflucht: Essig. Und der zog ihm den Mund zu. Für immer. Vorbei.
    Und der magere graue Mann, der sein Vater war, sagte nie mehr: Ist gut, mein Junge. Nie mehr. Das war nun alles alles vorbei.

Die Stadt
    Ein Nächtlicher ging auf den Schienen. Die lagen im Mond und waren schön blank wie Silber. Nur kalt, dachte der Nächtliche, kalt sind sie. Links weit ab ein vereinsamtes Geglüh, ein Gehöft. Und dabei ein rauhgebellter Hund. Das Geglüh und der Hund machten die Nacht zur Nacht. Dann war der Nächtliche wieder allein. Nur der Wind machte seine langatmigen U-Töne an den Ohren vorbei. Und auf den Schienen tupfige Flecke: Wolken überm Mond.
    Da kam der Mann mit der Lampe. Die schaukelte, als sie zwischen die beiden Gesichter gehoben wurde.
    Der Mann mit der Lampe sagte: Na, Junge, wohin denn?
    Und der Nächtliche zeigte mit dem Arm auf das Helle hinten am Himmel.
    Hamburg? fragte der mit der Lampe.
    Ja, Hamburg, antwortete der Nächtliche.
    Dann polterten unter ihren Schritten leise die Steine. Stießen sich klickernd. Und der Draht an der Lampe quietschte hin und her, hin und her. Vor ihnen lagen die Schienen im Mond. Und die Schienen liefen silbern auf das Helle zu. Und das Helle am Himmel in dieser Nacht, das Helle war Hamburg.
    So ist das aber nicht, sagte der mit der Lampe, so ist das nicht mit der Stadt. Das ist hell da, o ja, aber unter den hellen Laternen gehn auch nur welche, die Hunger haben. Das sag ich dir, du.
    Hamburg! lachte der Nächtliche, dann ist das andere gleich. Da muß man doch wieder hin, immer wieder hin, wenn man daher gekommen ist. Man muß wieder hin. Und dann, das sagte er, als ob er sich viel dabei dächte, das ist das Leben! Das einzige Leben!
    Die Lampe quietschte hin und her, hin und her. Und derWind uhte molltönig an den Ohren vorbei. Die Schienen lagen mondgeglänzt und kalt.
    Dann sagte der mit der pendelnden Lampe: Das Leben! Mein Gott, was ist das: Sich an Gerüche erinnern, nach Türdrückern fassen. Man geht an Gesichtern vorbei und fühlt nachts den Regen im Haar. Das ist dann schon viel.
    Da weinte hinter ihnen eine Lokomotive wie ein riesiges Kind voll Heimweh auf. Und sie machte die Nacht zur Nacht. Dann polterte ein Güterzug hart an den Männern vorbei. Und er grollte wie Gefahr durch die sternbestickte seidige Nacht. Die Männer atmeten mutig dagegen. Und die runden rotierenden Räder rollten ratternd unter rostroten roten Waggons. Rasten rastlos rumpelnd davon – davon – davon. Und viel ferner noch leise: davon – davon –
    Da sagte der Nächtliche: Nein, das Leben ist mehr, als im Regen laufen und nach Türdrückern fassen. Das ist mehr, als an Gesichtern vorbeigehen und Gerüche erinnern. Das Leben ist: Angst haben. Und Freude haben. Angst haben, daß man unter den Zug kommt. Und Freude, daß man nicht unter den Zug gekommen ist. Freude, daß man weitergehen kann.
    Dann lag an den Schienen ein schmales Haus. Der Mann machte die Lampe kleiner und gab dem Jungen die Hand: Also, Hamburg!
    Ja, Hamburg, sagte der und ging.
    Die Schienen lagen schön blank im Mond.
    Und hinten am Himmel ein hellerer Fleck: Die Stadt.

Stadt, Stadt: Mutter zwischen Himmel und Erde
    Hamburg
    H a m b u r g !
    Das ist mehr als ein Haufen Steine, Dächer, Fenster, Tapeten, Betten, Straßen, Brücken und Laternen. Das ist mehr als

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