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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk
Autoren: Wolfgang Borchert
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rußigen Stimmen, sind mit ihnen befreundet und erinnern sie noch lange.
    Und wir bleiben auch stehen, mit erstaunten Augen, wenn es – schon aus enorm ferner Ferne – verheißungsvoll herausschreit. Und wir stehen, mit flatterndem Haar, wenn es da ist wie Gewitter und als ob es wunder was für Welten umwälzte. Und wir stehen noch, mit rußigen Backen, wenn es – schon aus enorm ferner Ferne – schreit. Wie weit ab schreit. Schreit. Eigentlich war es nichts. Oder alles. Wie wir.
    Und sie pochen vor den Fenstern der Gefängnisse süßen gefährlich verheißenden Rhythmus. Ohr bist du dann, armmütiger Häftling, unendliches Gehör bist du den klopfenden kommenden Zügen in den Nächten und ihr Schrei und ihr Pfiff überzittert das weiche Dunkel deiner Zelle mit Schmerz und Gelüst.
    Oder sie stürzen brüllend über das Bett, wenn du nachts das Fieber beherbergst. Und die Adern, die mondblauen, vibrieren und nehmen das Lied auf, das Lied der Güterzüge: unterwegs – unterwegs – unterwegs – – Und dein Ohr ist ein Abgrund, der die Welt verschluckt.
    Unterwegs. Aber immer wieder wirst du auf Bahnhöfe ausgespien, ausgeliefert an Abschied und Abfahrt.
    Und die Stationen heben ihre bleichen Schilder wie Stirnen neben deiner dunklen Straße auf. Und sie haben Namen, die furchigen Stirnschilder, Namen, die sind die Welt: Bett heißen sie, Hunger und Mädchen. Ulla oder Carola. Und erfrorene Füße und Tränen. Und Tabak heißen die Stationen, oder Lippenstift oder Schnaps. Oder Gott oder Brot. Und die bleichen Stirnen der Stationen, die Schilder, haben Namen, die heißen: Mädchen.
    Du bist selber Schienenstrang, rostig, fleckig, silbern, blank, schön und ungewiß. Und du bist in Stationen eingeteilt, zwischen Bahnhöfe gebunden. Und die haben Schilder und da steht dann Mädchen drauf, oder Mond oder Mord. Und das ist dann die Welt.
    Eisenbahn bist du, vorübergerumpelt, vorübergeschrien – Schienenstrang bist du – alles geschieht auf dir und macht dich rostblind und silberblank.
    Mensch bist du, giraffeneinsam ist dein Hirn irgendwo oben am endlosen Hals. Und dein Herz kennt keiner genau.

Bleib doch, Giraffe
    Er stand auf dem windüberheulten nachtleeren Bahnsteig in der großen grauverrußten mondeinsamen Halle. Nachts sind die leeren Bahnhöfe das Ende der Welt, ausgestorben, sinnlos geworden. Und leer. Leer, leer, leer. Aber wenn du weitergehst, bist du verloren.
    Dann bist du verloren. Denn die Finsternis hat eine furchtbare Stimme. Der entkommst du nicht und sie hat dich im Nu überwältigt. Mit Erinnerung fällt sie über dich her – an den Mord, den du gestern begingst. Und mit Ahnung fällt sie dich an – an den Mord, den du morgen begehst. Und sie wächst einen Schrei in dir an: niegehörter Fischschrei des einsamen Tieres, den das eigene Meer überwältigt. Und der Schrei zerreißt dein Gesicht und macht Kuhlen voll Angst und geronnener Gefahr darin, daß die andern erschrecken. So stumm ist der furchtbare Finsternisschrei des einsamen Tieres im eigenen Meer. Und steigt an wie Flut und rauscht dunkelschwingig gedroht wie Brandung. Und zischt verderbend wie Gischt.
    Er stand am Ende der Welt. Die kalten weißen Bogenlampen waren gnadenlos und machten alles nackt und kläglich. Aber hinter ihnen wuchs eine furchtbare Finsternis. Kein Schwarz war so schwarz wie die Finsternis um die weißen Lampen der nachtleeren Bahnsteige.
    Ich hab gesehen, daß du Zigaretten hast, sagte das Mädchen mit dem zu roten Mund im blassen Gesicht.
    Ja, sagte er, ich hab welche.
    Warum kommst du dann nicht mit mir? flüsterte sie nah.
    Nein, sagte er, wozu?
    Du weißt ja gar nicht, wie ich bin, schnupperte sie bei ihm herum.
    Doch, antwortete er, wie alle.
    Du bist eine Giraffe, du Langer, eine sture Giraffe! Weißt du denn, wie ich ausseh, du?
    Hungrig, sagte er, nackt und angemalt. Wie alle.
    Du bist lang und doof, du Giraffe, kicherte sie nah, aber du siehst lieb aus. Und Zigaretten hast du. Junge, komm doch, es ist Nacht.
    Da sah er sie an. Gut, lachte er, du kriegst die Zigaretten und ich küß dich. Aber wenn ich dein Kleid anfasse, was dann?
    Dann werde ich rot, sagte sie, und er fand ihr Grinsen gemein.
    Ein Güterzug johlte durch die Halle. Und riß plötzlich ab. Verlegen versickerte sein sparsames verschwimmendes Schlußlicht im Dunkeln. Stoßend, ächzend, kreischend, rumpelnd – vorbei. Da ging er mit ihr.
    Dann waren Hände, Gesichter und Lippen. Aber die Gesichter bluten alle, dachte er, sie bluten aus
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