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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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Aber jetzt kommen Häuser auf mich zu. Mit hellen warmen Fenstern und rundköpfigen, lebendigen Menschen. Bill Brook blieb stehen und atmete tief und durstig, als hätte er seit Stunden die Luft angehalten. Und der Nachtwind, der ihn als Atem der Toten angehaucht hatte, wurde warm und vertraut wie derAtem eines großen grauen Tieres. Und das Tier, das ihn ausatmete, hieß Hamburg. Und sein Atem roch nach Topfblumen, frischgegossenen Vorgärten, Abendessen, offenen Fenstern, Menschen. Roch lebendig und warm wie Kuhatem, wie Pferdeatem abends im Stall.
    An einer Häuserecke saß sogar ein Hund, vorne Dackel, hinten Terrier, und fegte mit seinem Schwanz enthusiastisch von links nach rechts über die harten Steinfliesen. Als der Kanadier die Ecke erreicht hatte, sah er den Grund zu dem Enthusiasmus des Hundeschwanzes. Der Grund war ein dreizehnjähriges Mädchen, das mit einem Ball spielte. Sie warf ihn um den Rücken herum gegen die Wand und fing ihn mit der Brust wieder auf, wenn er von der Wand zurückprallte. Der Hund hielt den Ball im Abenddunkel vielleicht für ein geheimnisvolles aufregendes Tier. Und der Ball federte leicht und helltönend zwischen der Wand und der Brust des dreizehnjährigen Mädchens hin und her. Und der Hundeschwanz ging mit: Wand – Brust. Wand – Brust. Wand – Brust.
    Süß, dachte der Mann, der aus der toten Stadt kam. Süß. Aber in fünf Jahren macht sie das auch nicht mehr. Wegen der Brust. Dann ist sie vielleicht achtzehn. Oder zwanzig.
    Er lachte laut über seine Gedanken. Dann ging er weiter. Und ging mit großen sicheren Schritten in die lebendige Stadt hinein.
    Als Bill Brook eine Stunde später in der Badewanne seines Hotels stand und sich das eisige Wasser über den Rücken prasseln ließ, kam der kleine Schwarze von nebenan mit seinem Konservendosengelächter, stemmte beide Arme gegen die Türfüllung und schrie blechkehlig: «Ohe, Alter, bist du so versumpft, altes Sumpfhuhn, daß du gleich ins Wasser mußt? Kleines schmutziges Verhältnis gehabt, was, Alter? Oder haben sie dich in deinem eigenen Stadtteil mitDreck beworfen, ja?» Er krümmte sich vor Gelächter, als ob ihm schlechter Schnaps im Gedärm brenne. Bill Brook schmiß ihm die Seife nach und grinste: «Nee, nur ’n kleinen Trip gemacht in die tote Stadt. Kleinen Boxkampf gemacht mit zehntausend Toten. Und alle beinamputiert. Denk bloß, alle einbeinig!»
    Der Schwarzhaarige mit dem Blechlachen machte riesige runde Augen und einen dummen großen offenen Mund. «Aha», klöterte es dann aus seiner Kehle, «ach so, ihr habt gesoffen!» Und damit verschwand er gähnend und beruhigt im Nebenzimmer. Kurz darauf hörte Bill Brook seine beiden Kameraden gewaltig und männlich schnarchen.
    Dann setzte er sich an den Tisch, zog die Tischdecke ab und legte sie über die Lampe, damit die beiden Schnarcher nicht aufwachten. Er nahm einen Briefbogen. Und dann saß er vor dem leeren Papier und sah in die Lampe. Er wollte von Billbrook schreiben, von dem Stadtteil Billbrook, von der Telefonzelle, der Litfaßsäule, von der Laterne. Er wollte von den beiden Anglern mit den drei Beinen schreiben, von den Zigaretten im Wasser und vom Gras, vom großen grünen grauen Großstadtgras. Von den Leichenfingern wollte er schreiben, von der toten Stadt und ihren zehntausend flachgedrückten plattgedrückten Einwohnern. Von der toten Stadt wollte er schreiben und von dem Mädchen mit dem Ball. Davon wollte er schreiben. Das wollte er denen zu Hause schreiben, denen in Kanada, denen in Labrador. Aber dann schrieb er kein Wort davon. Dann schrieb er kein Wort von der toten Stadt. Dann schrieb er nur von Hopedale, vom Wind in Hopedale, vom Hafen in Hopedale und vom Wasser in Hopedale. Er sah in die Lampe.
    Und dann schrieb er unter seinen Brief noch einen Satz: «Ich glaube, es ist nicht so schlimm, daß die beiden Kühe eingegangen sind.» Das schrieb er. Und dann noch: «Nein,es ist bestimmt nicht so schlimm.» Er leckte den Brief zu und sagte: «Es ist auch wirklich nicht so gefährlich mit den beiden Kühen.»
    Er stand auf und machte das Licht aus. Dann ging er ans Fenster und sah in die Nacht hinaus. Da drüben blinkten die Sterne in der Alster. Und die Alster lag da schwarz und mittendrin. Und plötzlich klirrten die Fenster. Draußen fuhr eine Kolonne von schweren dicken Lastwagen vorbei. Ihre gelben großen Augen blinzelten durch den Nachtnebel. Ihre Motore schnoben wie eine Herde wütender Elefanten. Die Fenster klirrten heimlich und

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