Das Gesamtwerk
Brook glaubte, er hätte Kanada gesagt und hätte Hopedale gesagt. «Hafen» sagte er und «Hamburg»! Und dann wollte er wieder seine kurzen erdigen Finger hochheben und dem Fremden Zahlen vorzählen – aber dann winkte er mit beiden Armen ab und sagte nur: «Ach! In zwei Nächten. In zwei Nächten alles kaputt. Alles.» Und sein Arm machte einen Kreis, in dem eine ganze Welt Platz hatte.
Bill Brook hob zwei Finger: «Zwei Nächte? Nein! Zwei? Zwei Nächte?» Er lachte laut und erschrocken. Er lachte, und es war wie kleine Schreie, laut und erschrocken. Die ganze gewaltige große Stadt – in zwei Nächten? Er wußte nicht, was er anderes tun sollte, als lachen. Er dachte an Hopedale und er dachte: Zwei Nächte. Hopedale würde sein wie eine Lüge. Hopedale würde nicht mehr wahr sein nach zwei Nächten. Gelogen. Getilgt. Er dachte, daß vielleicht zehntausend Menschen unter der flachen Stadt liegengeblieben waren. Er lachte: Zehntausend Tote. Flach, platt und tot. Zehntausend in zwei Nächten. Eine ganze Stadt! In zwei Nächten. Flach, platt, tot.
Der Kanadier konnte nicht aufhören zu lachen. Er lachte und lachte. Aber er lachte nicht aus Freude und nicht aus Lust. Er lachte. Lachte aus Unglauben, aus Überraschung, aus Erstaunen, aus Zweifel. Er lachte, weil er es sich nicht vorstellen konnte. Er lachte, weil es ihm unmöglich erschien. Lachte, weil es ungeheuerlich war. Er lachte, weil es ihn fror, weil es ihn erstarren ließ, weil es ihm graute. Es graute ihm und er lachte. Der Kanadier stand in seiner sauberen blauen Uniform in einer unermeßlichen unvergeßlichen Wüste von Steinen und Toten und lachte. Stand mit seinem sauberenglatten Gesicht abends am Kanal neben zwei Anglern, und die hatten staubige faltige Gesichter und hatten nur drei Beine. So stand der Kanadier abends am Kanal und lachte. Da ließ der Einbeinige ein Wort aus dem unbeweglichen Mund auf den grünschwarzen Schlick fallen. Und das Wort klatschte wie eine Ohrfeige. «Schwein!» sagte der Einbeinige. Und dabei sah er den lachenden Soldaten an, daß dem das Lachen wie ein Hilfeschrei im Hals steckenblieb. Er sagte: «Schwein». Und es klatschte wie eine Ohrfeige über den stillen stumpfen Kanal an diesem Abend.
Aber der Alte hatte gefühlt, daß der Fremde nichts anderes hatte tun können, als lachen. Und er hatte gefühlt, daß es ein Lachen aus Grauen war. Daß es voller Grauen war, grauenhaft. Grauenhaft nicht nur für sie beide, grauenhaft auch für den Lacher. Und der Alte sagte zu dem Einbeinigen: «Du kennst keine Gesichter, habe ich dir doch gesagt.» Aber der Junge bellte: «Natürlich ist er ein Schwein. So ein Schwein.» Er zitterte. Und der Alte sagte noch einmal: «Und du kennst keine Gesichter, sag ich dir. Das ist alles.»
Bill Brook verstand nicht, was die beiden sagten. Aber er fühlte den Haß aus den Augen des Einbeinigen. Er fühlte das «Schwein» und er fühlte es wie eine Ohrfeige. Und er sah, daß die Augen des Alten ihn baten, zu gehen. Er scheuerte seinen Fuß zärtlich an dem Fell der Katze. «Ja», sagte er, «gute Nacht.» «Nacht», beeilte sich der Alte, «Nacht». Bill Brook drehte sich um und ging.
«Schwein das! Schwein das!» «Aber ich sage dir doch, daß du keine Gesichter …»
Mehr hörte der Kanadier nicht. Und er verstand es auch nicht. Aber er dachte: Es ist gut, daß ich gegangen bin.
Als er wieder auf der Straße war, störten ihn ein paar rote Flecke am Himmel. Die waren noch von der Sonne. Blutflecke, dachte er und macht lange energische Schritte der inBlut ersoffenen Sonne nach. Regelrecht rostige Blutflecke – unsympathisch, dachte er. Aber da war plötzlich der Nachtwind. Und der kam ihm wohlwollend und kühl entgegen und war voll Weichheit, wie er leise von der Stadt herwehte. Weich war er und leise, wohlwollend und wohltuend wehte er dem Mann ins Gesicht. Kühl und kameradschaftlich wie ein alter Bekannter aus Kanada. Wind. Wind aus Hamburg. Wind aus Hopedale. Nachtwind. Weltwind. Kühl, leis und von der Stadt her. Weltnachtwind. Der Kanadier knöpfte weit sein Hemd auf. Wind, Nachtwind, wehklagend, Wind aus Plattstadt, aus Flachstadt, Wind aus der Totenstadt. Atem, Nachtatem von zehntausend plattgedrückten Schläfern. Der Kanadier ging schnell, schnell und er sang laut vor sich hin. Und es war inzwischen so dunkel geworden, daß er alle paar Schritte mit dem Fuß gegen Ziegelsteine, verkohlte Balken und Mauerbrocken stieß. Aber er fluchte nicht. Nicht ein Mal. Er sang laut in die
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