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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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Dunkelheit hinein. Laut sang er und lustig sang er. Vielleicht sang er, weil er nicht fluchen wollte, wenn er sich stieß. Vielleicht sang er, weil er nicht an die Toten denken wollte. An die zehntausend Flachen mit dem Nachtatem, dem leisen wehmütigen Wind. Oder weil es so dunkel war. Doch, vielleicht war es so, daß er laut sang, weil es dunkel war. Und er ging schnell und sang. Vor ihm, im trüben Lichtdunst, lag die Stadt. Diese verrückte Stadt, von der ein Teil Billbrook hieß. Die einen graugrünen See mit weißen Segeln in der Mitte hatte. Und beispielsweise mal eben zehntausend Tote in einer eigenen Totenstadt. Verrückte Stadt, dachte er. Verrückte, lebendige, tote Stadt! Und er ging schnell und singend und war froh, daß sie da vor ihm lag, sichtbar, hörbar, riechbar, im trüben Lichtdunst des Nachtlebens, trübe und verheißungsvoll, mit dem See mittendrin. Und er ging schnell und laut vor sich hin in das Dunkel hineinsingend. Und neben ihm ging seinSchatten. Als er seinen Schatten neben sich sah, dachte er: Mein Gott, läuft der etwa? Und dann zwang er sich, zehn Schritte wenigstens, ganz langsam zu gehen, und er sang nicht. Und als er einen Stern aus Hopedale suchen wollte und stehen blieb und zu dem tintenfarbenen Himmel aufsah, da rief es ihn an, unterweltlich, unwirklich, unausweichlich, spukhaft. Und es rief: «He, Herr Bill Brook, wollen Sie nicht mal eben hersehen? Mal eben meine neuesten Plakate lesen?» Und was da baßstimmig dröhnend rief, das war die schiefe Anschlagsäule, die sich vor Diensteifer noch tiefer auf die Erde bückte. Sie war kahl und nackt und gespenstig und schimmerte hellgrau und bleichbäuchig durch den schmutzfleckigen Samt der frühen Nacht. Und der Kanadier ging schnell. «Juhu! Bill Brook! Wie ist es mit einem kleinen Telefönchen? Kleines Ferngespräch nach Kanada gefällig? Wie? Etwa so: Tote Stadt gesehen! Zehntausend Tote gerochen! Und Krümel, Krümel, Krümel gesehen. Menschkrümel, Steinkrümel, Stadtkrümel, Weltkrümel. Aber laufen Sie doch nicht weg, Bill Brook, he, juhu!» Die dicke dunkelrote glaslose skelettige Telefonzelle wedelte hysterisch mit der Tür und die zerrissenen Drähte pendelten wie Schlangen im Wind. Der Kanadier ging schnell. Und er sang. Und dann fand er, daß es so aussähe, als ob sein Schatten liefe. Er nahm sich vor, langsam zu gehen. Aber er ging schnell, der Kanadier. Da kam ihm kichernd der verblödete erblindete gekrümmte verödete Laternenpfahl entgegengestolpert und stotterte erregt: «Hoppla, Hallo, Billy, Junge! Soll ich dir leuchten? Heimleuchten? Bin ’n großartiger Leuchter, mein Lieber. Aber Billy, bleib doch, Billy!» Der Kanadier ging schnell. Und er sang laut. Er hatte sein Hemd weit offen. Er sah Hamburg vor sich und er dachte: Hopedale. Und er ging schnell. Er machte Riesenschritte und sein Schatten lief hinterher. Es sah aus, als liefe er. Der Nachtwind kam kühlund Bill Brook ging ihm mit nackter Brust und heißer Stirn entgegen. Und das Dunkel war ein Maul, das spie. Und spie plötzlich zwei gelbe glimmende gleitende Augen aus. Und die Augen kamen ihm entgegen. Und die Augen wurden größer. Und waren gelb und glimmten giftig auf ihn zu. Das muß ein Auto sein, sagte er sich. Natürlich, was sonst? Und wenn es nun kein Auto ist? Aber es ist sicher ein Auto. Gerade als er dachte, es ist vielleicht doch kein Auto, da blieben die beiden glimmenden Augen unvermutet stehen. Er hörte ein Quietschen. Das müssen die Bremsen sein. Dann erblindete das Ungeheuer und die Augen erloschen. Der Kanadier kam heran. Es war ein Auto. Donnerwetter, sagte er da und lachte. Und er fand, daß er eigentlich gar nicht so schnell zu gehen brauchte. Er ging langsamer. Er merkte, daß er ganz naß war. Ich bin so gelaufen. Viel zu schnell. Wie ein Wahnsinniger. Ich glaube, mir war diese tote Stadt mit ihren zehntausend flachen Einwohnern unbehaglich. Ich glaube, ich hatte Angst. Vielleicht hatte ich Angst. Natürlich: Angst. Er gab es sich zu, daß er Angst gehabt hatte. Viel nicht, aber Angst. Warum soll ich auch nicht Angst haben dürfen? Es ist gut, wenn man Angst haben kann. Manchmal ist es gut. Die keine Angst haben, werden Boxer, und ihre Nasen und Seelen sind unförmig und breitgeklopft und häßlich. Und die dürfen keine Angst haben. Arme Boxer. Schlimm für sie, wenn zehntausend Tote ihnen keine Angst machen. Solche Boxer gibt es viel.
    Meinetwegen, ich habe Angst gehabt vor den zehntausend Flachköpfigen, Flachbrüstigen.

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