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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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kommen Sie wieder. Werden Sie jemand!
    BECKMANN
(der bisher ruhig und eintönig war, jetzt allmählich erregter)
: Und wo soll ich anfangen? Wo denn? Einmal muß man doch irgendwo eine Chance bekommen. Irgendwo muß doch ein Anfänger mal anfangen. In Rußlandist uns zwar kein Wind um die Nase geweht, aber dafür Metall, viel Metall. Heißes hartes herzloses Metall. Wo sollen wir denn anfangen? Wo denn? Wir wollen doch endlich einmal anfangen! Menschenskind!
    DIREKTOR: Menschenskind können Sie sich ruhig verkneifen. Ich habe schließlich keinen nach Sibirien geschickt. Ich nicht.
    BECKMANN: Nein, keiner hat uns nach Sibirien geschickt. Wir sind ganz von alleine gegangen. Alle ganz von alleine. Und einige, die sind ganz von alleine dageblieben. Unterm Schnee, unterm Sand. Die hatten eine Chance, die Gebliebenen, die Toten. Aber wir, wir können nun nirgendwo anfangen. Nirgendwo anfangen.
    DIREKTOR
(resigniert)
: Wie Sie wollen! Also: dann fangen Sie an. Bitte. Stellen Sie sich dahin. Beginnen Sie. Machen Sie nicht so lange. Zeit ist teuer. Also, bitte. Wenn Sie so liebenswürdig sein wollen, fangen Sie an. Ich gebe Ihnen die große Chance. Sie haben immenses Glück: ich leihe Ihnen mein Ohr. Schätzen Sie das, junger Mann, schätzen Sie das, sag ich Ihnen! Fangen Sie also in Gottes Namen an. Bitte. Da. Also.
    (Leise Xylophonmusik. Man erkennt die Melodie der «tapferen kleinen Soldatenfrau».)
    BECKMANN
(singt, mehr gesprochen, leise, apathisch und monoton):

    Tapfere kleine Soldatenfrau –
    ich kenn das Lied noch ganz genau,
    das süße schöne Lied.
    Aber in Wirklichkeit: War alles Schiet!
    Refrain: Die Welt hat gelacht und ich hab gebrüllt.
    Und der Nebel der Nacht
    hat dann alles verhüllt.
    Nur der Mond grinst noch
    durch ein Loch
    in der Gardine!

    Als ich jetzt nach Hause kam,
    da war mein Bett besetzt.
    Daß ich mir nicht das Leben nahm,
    das hat mich selbst entsetzt.
    Refrain: Die Welt hat gelacht …

    Da hab ich mir um Mitternacht
    ein neues Mädchen angelacht.
    Von Deutschland hat sie nichts gesagt
    Und Deutschland hat auch nicht nach uns gefragt.
    Die Nacht war kurz, der Morgen kam,
    und da stand einer in der Tür.
    Der hatte nur ein Bein und das war ihr Mann.
    Und das war morgens um vier.
    Refrain: Die Welt hat gelacht …

    Nun lauf ich wieder draußen rum
    und in mir geht das Lied herum
    das Lied von der sau –
    das Lied von der sau –
    das Lied von der sauberen Soldatenfrau.
    (Das Xylophon verkleckert.)
    DIREKTOR
(feige)
: So übel nicht, nein wirklich nicht so übel. Ganz brav schon. Für einen Anfänger sehr brav. Aber das Ganze hat natürlich noch zu wenig Esprit, mein lieber junger Mann. Das schillert nicht genug. Der gewisse Glanz fehlt. Das ist natürlich noch keine Dichtung. Es fehlt noch das Timbre und die diskrete pikante Erotik, die gerade dasThema Ehebruch verlangt. Das Publikum will gekitzelt werden und nicht gekniffen. Sonst ist es aber sehr brav für Ihre Jugend. Die Ethik – und die tiefere Weisheit fehlt noch – aber wie gesagt: für einen Anfänger doch nicht so übel! Es ist noch zu sehr Plakat, zu deutlich, –
    BECKMANN
(stur vor sich hin)
: – zu deutlich.
    DIREKTOR: – zu laut. Zu direkt, verstehen Sie. Ihnen fehlt bei Ihrer Jugend natürlich noch die heitere –
    BECKMANN
(stur vor sich hin)
: – heiter.
    DIREKTOR: – Gelassenheit, die Überlegenheit. Denken Sie an unseren Altmeister Goethe. Goethe zog mit seinem Herzog ins Feld – und schrieb am Lagerfeuer eine Operette.
    BECKMANN
(stur vor sich hin)
: Operette.
    DIREKTOR: Das ist Genie! Das ist der große Abstand!
    BECKMANN: Ja, das muß man wohl zugeben, das ist ein großer Abstand.
    DIREKTOR: Lieber Freund, warten wir noch ein paar Jährchen.
    BECKMANN: Warten? Ich hab doch Hunger! Ich muß doch arbeiten!
    DIREKTOR: Ja, aber Kunst muß reifen. Ihr Vortrag ist noch ohne Eleganz und Erfahrung. Das ist alles zu grau, zu nackt. Sie machen mir ja das Publikum böse. Nein, wir können die Leute nicht mit Schwarzbrot –
    BECKMANN
(stur vor sich hin)
: Schwarzbrot.
    DIREKTOR: – füttern, wenn sie Biskuit verlangen. Gedulden Sie sich noch. Arbeiten Sie an sich, feilen Sie, reifen Sie. Dies ist schon ganz brav, wie gesagt, aber es ist noch keine Kunst.
    BECKMANN: Kunst, Kunst! Aber es ist doch Wahrheit!
    DIREKTOR: Ja, Wahrheit! Mit der Wahrheit hat die Kunst doch nichts zu tun! Mit der Wahrheit kommen Sie nicht weit. Damit machen Sie sich nur unbeliebt. Wo kämenwir hin, wenn alle Leute plötzlich die Wahrheit

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