Das Gesamtwerk
Und nun ist diese Tür für mich da. Für mich geht sie auf. Und hinter mir geht sie zu, und dann stehe ich nicht mehr draußen. Dann bin ich zu Hause. Das ist unsere alte Tür mit ihrer abgeblätterten Farbe und dem verbeulten Blechbriefkasten. Mit dem wackeligen weißen Klingelknopf und dem blanken Messingschild, das meineMutter jeden Morgen putzt und auf dem unser Name steht: Beckmann –
Nein, das Messingschild ist ja gar nicht mehr da! Warum ist denn das Messingschild nicht mehr da? Wer hat denn unseren Namen weggenommen? Was soll denn diese schmutzige Pappkarte an unserer Tür? Mit diesem fremden Namen? Hier wohnt doch gar kein Kramer! Warum steht denn unser Name nicht mehr an der Tür? Der steht doch schon dreißig Jahre da. Der kann doch nicht einfach abgemacht und durch einen anderen ersetzt werden! Wo ist denn unser Messingschild? Die andern Namen im Haus sind doch auch noch alle an ihren Türen. Wie immer. Warum steht hier denn nicht mehr Beckmann? Da kann man doch nicht einfach einen anderen Namen annageln, wenn da dreißig Jahre lang Beckmann angestanden hat. Wer ist denn dieser Kramer!?
(Er klingelt. Die Tür geht kreischend auf.)
FRAU KRAMER
(mit einer gleichgültigen, grauenhaften, glatten Freundlichkeit, die furchtbarer ist als alle Roheit und Brutalität)
: Was wollen Sie?
BECKMANN: Ja, guten Tag, ich –
FRAU KRAMER: Was?
BECKMANN: Wissen Sie, wo unser Messingschild geblieben ist?
FRAU KRAMER: Was für ein «unser Schild»?
BECKMANN: Das Schild, das hier immer an war. Dreißig Jahre lang.
FRAU KRAMER: Weiß ich nicht.
BECKMANN: Wissen Sie denn nicht, wo meine Eltern sind?
FRAU KRAMER: Wer sind das? Wer sind Sie denn?
BECKMANN: Ich heiße Beckmann. Ich bin hier doch geboren. Das ist doch unsere Wohnung.
FRAU KRAMER
(immer mehr schwatzhaft und schnodderig als absichtlich
gemein)
: Nein, das stimmt nicht. Das ist unsere Wohnung. Geboren können Sie hier ja meinetwegen sein, das ist mir egal, aber Ihre Wohnung ist das nicht. Die gehört uns.
BECKMANN: Ja, ja. Aber wo sind denn meine Eltern geblieben? Die müssen doch irgendwo wohnen!
FRAU KRAMER: Sie sind der Sohn von diesen Leuten, von diesen Beckmanns, sagen Sie? Sie heißen Beckmann?
BECKMANN: Ja, natürlich, ich bin Beckmann. Ich bin doch hier in dieser Wohnung geboren.
FRAU KRAMER: Das können Sie ja auch. Das ist mir ganz egal. Aber die Wohnung gehört uns.
BECKMANN: Aber meine Eltern! Wo sind meine Eltern denn abgeblieben? Können Sie mir denn nicht sagen, wo sie sind?
FRAU KRAMER: Das wissen Sie nicht? Und Sie wollen der Sohn sein, sagen Sie? Sie kommen mir aber vor! Wenn Sie das nicht mal wissen, wissen Sie?!
BECKMANN: Um Gotteswillen, wo sind sie denn hin, die alten Leute? Sie haben hier dreißig Jahre gewohnt und nun sollen sie mit einmal nicht mehr da sein? Reden Sie doch was! Sie müssen doch irgendwo sein!
FRAU KRAMER: Doch. Soviel ich weiß: Kapelle 5.
BECKMANN: Kapelle 5? Was für eine Kapelle 5 denn?
FRAU KRAMER
(resigniert, eher wehleidig als brutal)
: Kapelle 5 in Ohlsdorf. Wissen Sie, was Ohlsdorf ist? Ne Gräberkolonie. Wissen Sie, wo Ohlsdorf liegt? Bei Fuhlsbüttel. Da oben sind die drei Endstationen von Hamburg. In Fuhlsbüttel das Gefängnis, in Alsterdorf die Irrenanstalt. Und in Ohlsdorf der Friedhof. Sehen Sie, und da sind sie geblieben, Ihre Alten. Da wohnen sie nun, abgewandert, parti. Und das wollen Sie nicht wissen?
BECKMANN: Was machen sie denn da? Sind sie denn tot? Siehaben doch eben noch gelebt. Woher soll ich das denn wissen? Ich war drei Jahre lang in Sibirien. Über tausend Tage. Sie sollen tot sein? Eben waren sie doch noch da. Warum sind sie denn gestorben, ehe ich nach Hause kam? Ihnen fehlte doch nichts. Nur daß mein Vater den Husten hatte. Aber den hatte er immer. Und daß meine Mutter kalte Füße hatte von der gekachelten Küche. Aber davon stirbt man doch nicht. Warum sind sie denn gestorben? Sie hatten doch gar keinen Grund. Sie können doch nicht so einfach stillschweigend wegsterben!
FRAU KRAMER
(vertraulich, schlampig, auf rauhe Art sentimental)
: Na, Sie sind vielleicht ’ne Marke, Sie komischer Sohn. Gut, Schwamm drüber. Tausend Tage Sibirien ist auch kein Spaß. Versteh schon, wenn man dabei durchdreht und in die Knie geht. Die alten Beckmanns konnten nicht mehr, wissen Sie. Hatten sich ein bißchen verausgabt im Dritten Reich, das wissen Sie doch. Was braucht so ein alter Mann noch Uniform zu tragen. Und dann war er ein bißchen doll auf die Juden, das wissen Sie doch,
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