Das Geschwärzte Medaillon (Seelenseher-Trilogie) (German Edition)
vergangen sein. Also, im Grunde können wir uns den Schlaf nicht leisten.«
Ich murmelte es mehr aus Reflex heraus, als dass ich sie wirklich hatte verbessern wollen. Ich hatte damals viel über diese Eigenart des Tals nachgedacht und hatte deshalb so automatisch geantwortet.
»Okay, schön. Wir müssen trotzdem schlafen.«
Auch in ihren Augen war die Anstrengung der letzten Tage stärker zu erkennen. Sie hatte mir zuliebe nichts gesagt und war immer weiter gegangen, auch wenn ihr Körper sicher nach Schlaf geschrien hatte. Mein Schmerz trieb sie genauso an wie mich und sicher noch die Sorgen, die sie sich gleichzeitig machte. Ich war mir durchaus bewusst, dass Keira mich noch nie so besorgt angesehen hatte, wie wenn ich in der Blutsicht versank. Sie hatte jedes Mal Angst ihre beste Freundin an eine von Rache und Blutdurst gesteuerte Kreatur zu verlieren. Wir waren nun mal mehr als Seelenseherin und Schützerin. Mehr als eine Alverra und eine Kanterra. Etwas, das ich in den letzten Wochen immer wieder zu vergessen schien. Ich versuchte meine Gedanken zum Schweigen zu bringen und lief durch die mir vertrauten Tunnel des Singenden Baumes. Keira folgte mir, ohne zu versuchen ein Gespräch zu starten. Mein Stimmungswechsel musste klar in meinem Gesicht zu sehen sein und sie wusste, dass ich gerade nicht reden wollte.
Es dauerte nicht lange, bis ich die hölzerne Tür des Seelensehers aufstieß.
»Willkommen«, sagte ich mit einem aufgesetzten Lächeln und wies mit der Hand einladend ins Zimmer.
»Wow ... aber das ist nicht mein Zimmer, soweit ich das anhand der tausend Löwensymbolen, die hier überall sind, einschätzen kann, also? Und sag jetzt nicht, mein Zimmer ist die Besenkammer nebenan. Das wäre so was von nicht fair.«
Ich lachte. Etwas, das ich vor fünf Minuten nicht erwartet hatte, so müde waren selbst meine Gesichtsmuskeln. Ich hatte geglaubt, dass sie kein Lachen mehr zustande bringen würden.
»Ich dachte, das hätte ich gesagt. Gleich hier. Die Tür da. Es ist aber keine Besenkammer. Eher ein winziger kleiner Schrank, aber ich habe angenommen, dass dir das nichts ausmacht.«
Ich grinste sie herausfordernd an.
»Solange er einen Fernseher hat, nehme ich auch einen Schrank.«
Sie sagte es so trocken, dass man es ihr fast abkaufen konnte.
»Gewonnen«, gab ich geschlagen zu und wartete, bis Keira die Tür öffnete. Das nächste ›Wow‹ war unüberhörbar.
»Das ist unglaublich.«
»Ja, das war damals auch mein erster Gedanke. Recht beeindruckend. Noch mehr, wenn du dir den Schrank anschaust und dann die ganzen Kleider aus den verschiedenen Epochen siehst. Die solltest du dir wirklich ansehen.«
Sie verschwand schon in Richtung des Kleiderschranks, noch bevor ich wirklich zu Ende gesprochen hatte.
»Ja, okay ... also, wie ich sehe, bist du erstmal beschäftigt, also hast du sicher nichts dagegen, wenn ich mich hinlege. Kopfschmerzen und so.«
Ich lachte und schüttelte den Kopf, als sie nicht die geringsten Anstalten machte, auf mein Gesagtes zu reagieren. Es war immer wieder belustigend zu sehen, wie Keira versuchte ein Outfit zusammenzustellen. Diese Sammlung an Kleidern musste ein wahres Paradies für sie sein. Ich war mehr von der Vorstellung gefesselt als von den tatsächlichen Kleidungsstücken. So viele Epochen. So viele Ahnen. Und ich kannte nicht einmal meine Eltern. Im Gegenteil zu Keira war ich der Typ, der eine beliebige Jeans griff und dann irgendein Shirt. So lange es passte, war alles bestens.
Ein erschöpftes Stöhnen entwich meiner Kehle, als ich mich aufs Bett sinken ließ. Erst jetzt bemerkte ich, dass jeder Teil meines Körpers schmerzte. Und der schlimmste Teil davon war mein Kopf. Als ich flach auf dem Rücken lag, dachte ich für einen Moment wirklich, dass der Raum sich drehte. Es dauerte keine zwei Minuten, bis ich auf der Decke und mit immer noch nassen Klamotten einschlief. Es war nicht wirklich ein angenehmer Schlaf. Die Kälte hatte sich in meinen Knochen eingenistet und weigerte sich meinen Körper freizugeben. Als ich unter Zittern aufwachte, strahlte das nachtschwarze Blau durch die Rinde des Singenden Baumes und verbreitete eine Atmosphäre, wie sie nur in einem grandiosen Fantasyfilm wiedergegeben werden konnte. Eine Erhabenheit, die für die wenigstens Menschen wirklich greifbar war. Wie sollte man etwas beschreiben, das kaum jemand erlebt hatte und für das es keine passenden Wörter gab. Es war unvorstellbar, wie Menschen durch ihr Leben gehen konnten,
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