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Das Gesicht

Das Gesicht

Titel: Das Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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außer Stande, gekränkt zu sein.
    »Wenn ich ein Yeti wäre«, sagte er in der Sprache des Boten, »dann könnte ich durchaus so groß sein.« Er maß ziemlich genau zwei Meter. »Ich könnte auch so muskulös und kräftig sein. Aber ich wäre viel behaarter, meinst du nicht auch?«
    »Da ist wohl … was dran.«
    »Ein Yeti rasiert sich nie.« Deucalion beugte sich vor, als wollte er ihn in ein Geheimnis einweihen, und sagte: »Unter seiner dichten Behaarung hat ein Yeti nämlich äußerst empfindliche Haut. Sie ist rosa und zart … und bekommt von einer Rasierklinge leicht Ausschlag.«
    Der Bote raffte seinen Mut zusammen und fragte: »Was bist du denn dann?«
    »Big Foot«, sagte Deucalion auf Englisch, und Nebo lachte, doch der Bote verstand kein Wort.
    Das Gelächter des Mönchs machte den jungen Mann nervös, und nicht nur die eisige Luft ließ ihn zittern, als er Deucalion ein in zerschrammte Ziegenhaut eingewickeltes Päckchen hinhielt, das mit einem Lederriemen fest verschnürt war. »Hier. Da ist es drin. Für dich.«
    Deucalion hakte einen kräftigen Finger unter den Lederriemen, riss ihn durch und faltete die Ziegenhaut auseinander. Darin fand er einen Umschlag, einen zerknitterten und fleckigen Brief, der eine lange Wegstrecke hinter sich hatte.
    Abgeschickt worden war er in New Orleans. Der Name des Absenders war der eines getreuen alten Freundes, Ben Jonas.
    Der Bote, der immer noch nervös war und verstohlene
Blicke auf die zerstörte Hälfte von Deucalions Gesicht warf, beschloss offensichtlich, dass die Gesellschaft eines Yetis einer Rückreise über den bitterkalten Gebirgspass in der Dunkelheit vorzuziehen war. »Dürfte ich um Unterkunft für die Nacht bitten?«
    »Jeder, der an dieses Tor kommt«, versicherte ihm Nebo, »kann haben, was er braucht. Wenn wir sie hätten, würde ich dir sogar Cheez-Its anbieten.«
    Vom äußeren Trakt stiegen sie die steinerne Rampe durch das innere Tor hinauf. Zwei junge Mönche mit Laternen trafen ein, als seien sie durch Telepathie herbeizitiert worden, um den Boten zum Gästequartier zu führen.
    Im Kerzenschein der Empfangshalle, in einer Nische, die nach Sandelholz und Weihrauch duftete, las Deucalion den Brief. Bens Worte, die er mit der Hand geschrieben hatte, übermittelten in säuberlich gepinselter blauer Tinte eine Nachricht von großer Tragweite.
    Dem Brief war ein Zeitungsausschnitt aus der New Orleans Times-Picayune beigelegt. Die Überschrift und der Text gingen Deucalion nicht annähernd so nah wie das Foto.
    Obwohl ihm Alpträume keine Angst einjagen konnten und er schon vor langer Zeit aufgehört hatte, irgendeinen Menschen zu fürchten, zitterten seine Hände. Der spröde Zeitungsausschnitt erzeugte in den bebenden Fingern einen Laut wie ein huschendes Insekt.
    »Schlechte Nachrichten?«, fragte Nebo. »Ist jemand gestorben? «
    »Schlimmer. Jemand ist noch am Leben.« Deucalion starrte ungläubig die Fotografie an, die sich kälter als Eis anfühlte. »Ich muss Rombuk verlassen.«
    Diese Ankündigung betrübte Nebo offensichtlich. »Ich hatte mich seit einiger Zeit mit dem Gedanken getröstet, du würdest derjenige sein, der bei meinem Tod die Gebete spricht.«

    »Du bist viel zu fit, um in absehbarer Zeit zu sterben«, sagte Deucalion. »So gut konserviert wie eine Silberzwiebel in Essig. Außerdem bin ich vielleicht der letzte Mensch auf Erden, auf den Gott hören würde.«
    »Vielleicht aber auch der erste«, sagte Nebo mit einem enigmatischen und zugleich durchtriebenen Lächeln. »Also gut. Falls du vorhast, dich wieder in die Welt jenseits dieser Berge zu begeben, dann gestatte mir vorher, dir ein Geschenk zu machen.«
     
    Wie wächserne Stalagmiten ragten gelbe Kerzen aus den goldenen Kerzenhaltern und tauchten den Raum in ein weiches Licht. Gemalte Mandalas zierten die Wände, geometrische Muster, von einem Kreis umschlossen, der den Kosmos darstellte.
    Deucalion saß zurückgelehnt auf einem Stuhl, der mit dünnen roten Seidenkissen gepolstert war, und blickte zu der Holzdecke aus geschnitzten und bemalten Lotusblüten auf.
    Nebo saß im rechten Winkel zu ihm und war über ihn gebeugt. Mit der Aufmerksamkeit eines Gelehrten, der Schriftrollen mit verschnörkelten Sutras entziffert, musterte er eingehend sein Gesicht. Im Lauf von Jahrzehnten auf Jahrmärkten war Deucalion von seinen Leidensgenossen akzeptiert worden, als fiele an ihm überhaupt nichts auf, denn auch sie waren alle Außenseiter, ob freiwillig oder notgedrungen.
    Von

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