Lieber Onkel Ömer
Der gute Neujahrsvorsatz
Mein lieber Onkel Ömer,
wie geht es Dir, und wie geht es meiner lieben Tante Ülkü? Wie geht’s der hübschen Kuh Pembe, wie geht’s der schwarz gepunkteten
Ziege Fatima, wie geht’s Deinem störrischen Esel Tarzan, und wie geht’s unserem guten alten Dorfvorsteher Hüsnü?
Lieber Onkel Ömer, Du fragst mich ja schon seit Jahren ständig, wie mein Leben hier im kalten Deutschland so aussieht.
Halt Dich fest, jetzt kommt mein tolles Neujahrsgeschenk für Dich: Ich habe mir als guten Vorsatz fürs neue Jahr genommen,
meinem Lieblingsonkel Ömer daheim in Anatolien ein Jahr lang alle vierzehn Tage einen Brief zu schreiben, um Dir darin von
meinem aufregenden Leben in Alamanya als Türke mit Migrationshintergrund zu berichten und um Dir zu zeigen, wie dieses verrückte
Deutschland so tickt, ich meine, funktioniert.
Meine Frau Eminanim meckert jetzt schon, dass ich auch diesen guten Vorsatz mit Sicherheit nicht einhalten werde, so wie all
die anderen guten Vorsätze, die ich jedes Jahr schon nach zwei Tagen, manchmal sogar nach zwei Minuten, aufgebe. Ich habe
nämlich immer noch zwanzig Kilo Übergewicht, ich gehe immer noch nicht spazieren |8| und ins Fitnesscenter, ich hocke immer noch vor dem Fernseher, und meine Haare fallen immer noch aus.
Aber wieso sollte ich auch nach fünfzig Jahren wie ein frisch verliebter Hahn plötzlich mit dem Essen aufhören, nur, um ein
bisschen schlanker auszusehen? Warum sollte ich wie ein streunender Hund zu Fuß durch die Straßen laufen, wo doch mein lieber
Ford-Transit noch so gut in Schuss ist und es draußen ständig regnet und ekelhaft kalt ist? Wieso um Himmels willen sollte
ich gerade jetzt weniger fernsehen, wo ich mir endlich tausend deutsche Kanäle und dazu noch hundertzweiundfünfzig türkische
Sender leisten kann? Und was meine Haare betrifft, wie sagte meine Tante Ülkü so schön: Gehende soll man nicht aufhalten!
Also, versprochen ist versprochen, auch wenn ich bisher noch nie einen meiner guten Vorsätze einhalten konnte, diesmal werde
ich es schaffen!
Ich weiß, dass Du meine Briefe immer in unserem Dorfcafé mit stolzgeschwellter Brust allen Leuten vorliest, deswegen werde
ich mir besondere Mühe geben.Ich habe mich auch sehr gefreut, dass unser Dorfvorsteher Hüsnü mir letztens am Telefon verraten
hat, dass er alle meine Briefe an der schwarzen Tafel aufhängt, direkt neben seinen wichtigen Meldungen. Er ist nämlich sehr
stolz darauf, dass ein Sohn unseres Dorfes, nämlich der Osman, in Deutschland große Karriere gemacht und als Schlosser den
riesigen Sprung von Halle 3 in Halle 4 geschafft hat – und nicht ins Hartz IV.
Ich werde beweisen, dass Ihr alle zu Recht stolz auf mich seid. Ich habe auch meiner Mutter schon die frohe Botschaft überbracht,
dass sie ab sofort jeden Monat zwei |9| Briefe von mir am schwarzen Brett vom Dorfvorsteher Hüsnü lesen kann. Sie freut sich riesig darauf. Ich darf die gute Frau
nicht schon wieder enttäuschen. Außerdem möchte ich nicht wieder das ganze Jahr zum Gespött Eminanims werden, das allein setzt
mich genug unter Druck.
Lieber Onkel Ömer, für Dich geht das neue Jahr ja erst los, wenn am 1. Januar der Hahn kräht – wenn er stottert, dann halt
am 2. Januar. Aber hier in Alamanya fängt das neue Jahr, anders als bei Euch im Dorf, pünktlich um 24 Uhr in der Silvesternacht
an. Da werden die letzten 365 nervigen, anstrengenden Tage endlich verscheucht, und den neuen kommenden 365 Tagen wird mit
gekünstelter, vorgespielter Euphorie Platz gemacht, in der Hoffnung, das Schicksal milde zu stimmen, damit die Zukunft besser
verlaufen möge.Nach dem Motto:»Wie man in das neue Jahr hineinkommt, so geht es auch weiter!«
Deshalb wollte ich vor drei Jahren dem Schicksal etwas nachhelfen und habe den Silvesterabend mit der gesamten Familie vor
dem Geldautomaten der Sparkasse in unserer Straße verbracht. Punkt Mitternacht habe ich 500 Euro abgehoben, auf dass der starke
Geldsegen das ganze Jahr über andauern möge. Aber das schöne Geld wurde mir wenig später leider prompt geklaut. Nach dieser
bitteren Enttäuschung habe ich in dem Jahr keiner noch so alten Dame mehr über die Straße geholfen. Erst recht nicht, wenn
sie angeblich betrunken war!
Vor zwei Jahren hatten wir am Silvesterabend mit der ganzen Sippschaft die Lobby eines Fünfsternehotels in Bremen besetzt,
damit wir im Urlaub nicht mehr in der billigsten
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