Das Geständnis der Amme
Prolog
Brügge, A.D. 864
Johannas Wille zu sterben war stärker als ihre Angst vor dem Tod. Nachdem sie ihren Entschluss gefällt hatte, erwartete sie, dass Zweifel und Panik sie bestürmen würden, doch die Aussicht auf das Ende machte die Welt nicht düsterer, sondern lichter.
Die schrecklichen Schreie, die aus dem Nebenraum drangen und von den Qualen zeugten, denen das Irdische oft unterliegt, schienen an Kraft zu verlieren. Vielleicht stellten sich ihre Ohren aber auch nur taub, ließ sich ihr Geist von dem Herzzerrei-ßenden, Hoffnungslosen nicht länger anstecken. Es ist doch bald vorbei, wollte sie der Schreienden am liebsten zurufen, es ist doch bald vorbei.
Wenn ich …es erst getan habe, dann bist auch du erlöst.
Johanna ging fast traumwandlerisch, ohne das übliche unangenehme Knacken, mit dem die morschen Knochen von ihrem hohen Alter kündeten. Auch der Rücken schmerzte nicht wie sonst vom langen Stehen, sondern fühlte sich an, als könnte sie ihn das erste Mal seit Jahren wieder gerade durchstrecken. Vielleicht hatte ihr Entschluss, den Leib abzustreifen, diesem bereits die Form des Himmlischen gegeben. Jene Form, die er einst nach der Auferstehung des Fleisches erhalten würde, wenn er in ewiger Schönheit erstrahlen und nicht mehr von den Spuren des hiesigen Jammertals zeugen würde. Ihr Haar würde dunkel und kräftig sein, nicht grau und dünn. Ihre Haut wäre glatt und strahlend, nicht faltig und bleich. Ihren Händen würde man nicht ansehen, dass sie oft stundenlang in der Erde gegraben hatten, um Samenzu säen oder Kräuter zu ernten, so wie jene, die sie nun aus ihrer geheimen Vorratskammer nahm. Ihre Schätze befanden sich in kleinen Lederbeutelchen und Tiegeln aus Bronze, die sie in einem langen, schmalen Hängeschrank aufbewahrte. Er war aus dem Geflecht von ästen gewunden und hing an einem Haken an der Decke. Johanna öffnete einige der Beutel; der Duft, den die vielen Arzneien verströmten, war intensiv, aber sie labte sich nicht daran, als sie das Gift mischte, sondern steckte bereits im Dunst einer Welt fest, in der Wohlgerüche nicht mehr zählen.
Ehe sie das Gift an ihre Lippen führte, hielt Johanna noch einmal inne. Sie wollte nicht überdenken, was sie plante, aber sie wollte es klar benennen, auf dass der Allmächtige da droben im Himmel auch wüsste, was sie tat – und vor allem, warum sie es tat. Zwar sagten die Mönche, dass Seinem gestrengen Blick nichts entginge, aber wer konnte schon mit Gewissheit sagen, ob Er ihr Vorgehen als jenen todernsten Handel betrachtete, bei dem sie höchsten Einsatz zeigte, und nicht als Irrtum einer alten Frau, die ihre Sinne nicht mehr beisammen hatte und versehentlich das Falsche schluckte?
Ehe sie starb, wollte sie sich Gott erklären. Es waren Sein Zorn und Seine Rache, die sie hierher geführt hatten, und ihr Versuch, Ihn gnädig zu stimmen, war der einzige Weg, der ihr noch blieb.
Obwohl sie im Leben selten gebetet hatte, faltete sie die Hände. Ihre Stimme klang fest, aber fremd.
»Höre, Gott, Allmächtiger! Ich, Deine Tochter Johanna, tue Buße für meine Sünden, meine ach so schweren Sünden. Nimm meine Sühneleistung an. Lass nicht andere Menschen für das leiden, was ich verbrochen habe. Schon gar nicht Balduin und Judith. Herr, erbarme Dich meiner. Sei meiner armen Seele gnädig und weiche niemals von Balduin und Judith, wenn ich die Welt bald verlassen habe.«
Sie löste ihre Hände voneinander, nahm von dem Gift und schluckte es. Bilder stiegen vor ihr auf, Bilder, die Zeugnis ablegten von ihrem Leben. Sie verwehrte sich ihnen nicht, sondern gab sich ihnen hin, auch der Erinnerung an jenen lang vergangenenTag, da sie schon einmal in Todesnähe geschwebt hatte. Damals hatte sie unendliche Angst gehabt, hatte mit all ihrer Kraft gegen den Tod gekämpft und schließlich mit knapper Not überlebt.
Heute würde sie nicht überleben. Heute war ihr Wille zu sterben stärker als ihre Angst vor dem Tod.
Erster Teil
Die Amme
A.D. 842-848
»Die Zahl der Schiffe schwillt an,
die endlose Normannenflut hört niemals auf anzusteigen.
So erfüllt sich allmählich die Prophezeiung des Herrn,
wie sie von seinem Propheten verkündet wurde:
Eine Geißel wird hereinbrechen vom Norden
über alle Bewohner der Erde.«
Ermentarius von Noirmoutier
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I. Kapitel
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Ihre Füße waren blutig.
Obwohl sie weite Strecken auf weichem Moos gelaufen war, hatten sich Äste und Steinchen in ihre Sohlen geschnitten und jagten scharfe
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