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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Krohn
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Hunger kamen die Erinnerungen, allerdings nicht zusammenhängend. Ähnlich karg wie das Licht streiften sie ihr Gemüt nur für die Dauer eines Wimpernschlags, und die Bilder, die sie dann zu erkennen glaubte, blieben trügerisch. Sie wusste nicht, ob sie etwas widerspiegelten, was sie in der Vergangenheit tatsächlich erlebt hatte, oder ob sie nur der Nachgeschmack aberwitziger Träume waren.
    Eines dieser Bilder schenkte ihr zumindest die Gewissheit, dass es auch in den Wäldern – so gefährlich sie auch waren, weil man sich in ihrer Weite verirren konnte – etwas Essbares gab: Heidelbeeren, Vogelbeeren und Pilze, manchmal auch Äpfel, Birnen und Pflaumen. Sie erinnerte sich, wie sie einst ein ähnliches Dickicht durchstreift hatte, einen aus Weidenflechten gewundenen Korb in der Hand, um darin zu sammeln, was zwischen den übrigen Mahlzeiten – meist fade schmeckender Getreidebrei–für Abwechslung sorgen sollte. Sie erinnerte sich auch an ein Gefühl von Unbeschwertheit, von Leichtigkeit.
    Es hatte ein Leben vor dem Grauen gegeben, und sie war damals nicht allein gewesen, sondern wurde von anderen Frauenbegleitet – vertrauten Frauen, die sie gewiss mit jenem Namen riefen, den sie nicht mehr wusste.
    Nein, damals war sie nicht allein gewesen, nicht verloren …
    Sie krümmte sich, als hätte sie ein Schlag in der Magengrube getroffen. »Nein!«, schrie sie unwillkürlich. »Nein!«
    Ihre Stimme ließ sie noch mehr zusammenfahren. Sie klang nicht wie die eines Menschen, sondern wie die eines verwunschenen Waldwesens, das sich mit Tieren paart. Mit einer schreienden Eule, einem heulenden Wolf.
    Wölfe …
    Erneut stieg ein Bild vor ihr auf. Diesmal zeigte es nicht den Wald, sondern eine Kirche, die Kirche eines Dorfes, ihres Dorfes. An die zwanzig Häuser standen dort, aus Holz und Lehm errichtet, in den Boden eingetieft, von einem Palisadenzaun umgeben. Die kleine Kirche war ähnlich erbaut wie die Häuser, mit einem Gitterwerk aus Geäst als Wände und einem aus Lehm gestampften Boden. Sie hatten die Messe gefeiert, sie und die anderen Bewohner des Dorfes, als plötzlich ein Wolf hereingekommen war, mit Schaum vor dem Mund, aber ohne die übliche Scheu vor den Menschen. Er schien gar nicht auf ihr Geflügel oder ihre Schafe aus zu sein, sondern auf Gesellschaft. Mit gelben Augen starrte er sie an, nicht bösartig, nur hungrig.
    Als die Männer ihn erschlugen, wehrte er sich nicht. Voller Unbehagen hatte sie zugesehen, fand es falsch, auf ein wehrloses Tier einzuprügeln, und war umso besorgter, als der Priester später voller Furcht verkündete, dass es ein schlechtes Omen sei, wenn ein Tier wie der Wolf in die Kirche eindrang. Gewiss stünde ihnen allen großes Unheil bevor, Gott der Allmächtige möge ihnen gnädig sein.
    Unheil, Unheil, Unheil …, hallte es in ihren Gedanken nach. Sie krümmte sich noch tiefer, sprang dann auf. Sie lief, ohne innezuhalten, scherte sich nicht, dass die kaum verkrusteten Wunden an ihren Fußsohlen aufplatzten, dass ihre Kehle sich wieder schmerzhaft zusammenschnürte. Sie wusste: Wenn sie nicht vor dem Grauen davonliefe, das nach ihrer Seele fasste, nicht vordem, was ihr geschehen war und was sie selbst getan hatte – dann würde sie sterben.
     
    Irgendwann war der Wald zu Ende.
    Ödland breitete sich vor ihr aus. Vor langer Zeit war hier wohl gerodet worden, doch anschließend hatte sich niemand die Mühe gemacht, den Boden zu beackern und mit Reben zu bepflanzen.
    Sie wollte weiterlaufen, schaffte es aber kaum mehr. Nicht nur wegen des bedrohlich weiten Himmels, der sich über ihr öffnete, oder der ungeschützten Fläche, die sich vor ihr auftat, sondern weil der Schmerz in ihren Füßen unerträglich wurde. Ohne darüber nachzudenken, tat sie etwas, was sie längst hätte tun sollen. Sie riss einen Fetzen von ihrem schmutzigen Kleid und wickelte ihn um die Füße. Sogleich erinnerte sie sich an jenen Morgen, da ihre Welt noch in Ordnung gewesen war, da das grässliche Rasseln der Köcher noch nicht die Nähe der Angreifer verraten hatte. An diesem Morgen hatte sie das Kleid angezogen – in der Hütte, die sie plötzlich vor sich sah und in der sie wohl gelebt hatte.
    Die Hütte war dunkel, raucherfüllt. Der Boden war nicht mit Lehm gestampft wie in der Kapelle, sondern mit Holzplatten verlegt, die ständig knirschten. Es gab einen Tisch und eine Bank. An den Wänden aus Weidengeflecht hingen Schüsseln, Töpfe, Messer und Sicheln. Am Ende des Raumes befand sich

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