Das Glück mit dir (German Edition)
wegdreht und Nina den Rücken zuwendet, bis er schließlich seinen Satz beendet, auflegt und in seinem Stuhl herumwirbelt, um sie anzusehen.
Alles klar?, fragt er. Ich habe dich nicht erwartet.
Ich war in Cambridge Mittag essen. Wollte nur mal auf dem Heimweg hereinschauen, antwortet Nina.
Ich habe in einer Minute ein Seminar, sagt Philip mit einem Blick auf die Wanduhr in seinem Büro.
Isabelle wer?, fragt Nina, um eine ruhige Stimme bemüht. Eine Sekretärin? Eine Studentin?
Isabelle?
Tut Philip bloß, als wüsste er von nichts?
Oh – er fängt an zu lachen. Willst du sie kennenlernen?
Sieh mal. Philip winkt Nina zu sich an den Schreibtisch und deutet auf seinen Computerbildschirm.
Isabelle ist eine Software. Ein generischer Theorembeweiser. Sie ermöglicht die Übertragung von mathematischen und computerwissenschaftlichen Formeln in formale Sprache. Zu dem Programm gehört eine große Datenbank formal verifizierter Mathematik, einschließlich elementarer Zahlentheorie, Mengentheorie, grundlegender Eigenschaften von Grenzwerten, Ableitungen und Integralen – soll ich fortfahren?
Nina schüttelt den Kopf.
Ein Kunstlehrer hat Nina einmal empfohlen, nicht mehr aus Hand und Handgelenk, sondern aus der Schulter zu malen. Er riet ihr, nur mit Kohle zu arbeiten. Kohle, sagte er, ist einfach, billig und verbindet den Künstler mit der Erde. Und Nina solle versuchen zu vergessen, was sie gelernt habe – auf Winkel zu achten, Perspektiven zu berechnen –, und stattdessen schnell, fast blind arbeiten und ihrem Instinkt folgen. Sie müsse darauf vertrauen, dass irgendwo zwischen ihrer Schulter und dem Papier ein Bild entstehen werde.
Sie muss sich mehr Raum geben, weiter zurücktreten.
Zunächst malt sie nichts als Schleifen. Große Schleifen. Einige sind so dick und dunkel, dass sie manchmal zu hart aufdrückt und die Kohle abbricht; andere sind leichter, die Linien verwischt, Schatten verteilen sich auf dem Papier.
Wenn sie Schleifen zeichnet, hat sie das Gefühl zu trainieren. Anschließend fühlt sie sich wie nach einem frühmorgendlichen kilometerlangen Geländelauf.
Oder wie beim Tanzen.
Oder wie sie sich vielleicht fühlen würde, wenn sie singen könnte.
Wieder blickt sie hinüber zu Philip, der neben ihr liegt. Sie summt ein paar Zeilen aus La Vie en Rose vor sich hin.
Hat sie die Kohleporträts, die sie von Philip angefertigt hat, aufgehoben?
Oder hat sie sie weggeworfen?
Sie kann sich die Taschenlampe aus dem Einbauschrank unten im Flur holen, durch den Garten gehen – das Gras wird nass sein vom Regen – und in ihrem Atelier danach suchen.
Die Skizzen waren nicht schlecht.
Aber sie will Philip nicht verlassen.
Wie viel Uhr ist es?
Über Philip gebeugt versucht sie, die Uhr abzulesen.
Die Zahlen verschwimmen vor ihren Augen.
4 Uhr 20? 4 Uhr 30?
Der Zeiger, der den Weckton auslöst, ist im Weg.
Philip trägt keine Armbanduhr.
Von Zeit zu Zeit hat er es probiert. Er kauft sich eine billige Uhr – eine Timex oder eine Casio –, aber entweder verliert er die Uhr oder die Uhr versagt den Dienst.
Es muss an meinem Biorhythmus liegen, sagt er.
Unsinn, es ist einfach eine billige Uhr, erklärt ihm Nina.
Trotzdem kommt Philip selten zu spät, außer wenn er bei der Arbeit aufgehalten wird. Er hat eine geradezu unheimliche Fähigkeit, zu sagen, wie spät es ist.
Wie viel Uhr ist es, Dad? Louise stellt ihn als Kind gern auf die Probe.
12.35.
Falsch!, ruft Louise. 12.25.
Deine Uhr geht nach, Lulu, erklärt ihr Philip.
Und überhaupt, fährt er fort, es gibt keine absolute Zeit. Einstein zufolge hat jedes Individuum sein eigenes, persönliches Zeitmaß, das davon abhängt, wo der Mensch sich befindet und wie er sich bewegt.
Louise rollt die Augen.
Wenn du eine Zwillingsschwester hättest, Lulu, und du würdest ein paar Lichtjahre mit Lichtgeschwindigkeit in einem Raumschiff herumsausen und dann wieder zur Erde zu deiner Zwillingsschwester zurückkommen, wer von euch wäre dann jünger?, fragt Philip weiter. Du oder deine Zwillingsschwester?
Nina weiß die Antwort natürlich.
Wie Iris ist der Raumschiffzwilling immer noch jung und schön, während der auf der Erde zurückgebliebene faltig und grau ist wie sie selbst.
Sie will die Augen schließen, reißt sie aber gleich wieder auf.
Wieder ist ihr schwindelig.
Und übel.
Wann hat sie zuletzt etwas gegessen?
Mittags ein Sandwich, während sie Himmel und Meer gemalt hat – an ihrem Triptychon.
Das Bild, so entscheidet sie,
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