Das Glück mit dir (German Edition)
sind kalt und steif, sie biegt sie um ihre. Dann führt sie seine Hand an ihre Lippen.
»Wenn ich sage ›Ich bin zu 95 Prozent sicher, dass ich die Tür abgeschlossen habe, als ich das Haus verließ‹«, erklärt Philip seinen Studenten am letzten Tag vor den Ferien, »dann ist das ein klassisches Beispiel für epistemische Wahrscheinlichkeit – Wahrscheinlichkeit, die auf Intuition beruht. Aber wenn ich sage, ›Ich bin mir zu 95 Prozent sicher, dass ich vor meiner Frau sterben werde‹ – bekanntlich leben Frauen tendenziell länger als Männer –, spricht man von einer Wahrscheinlichkeit a posteriori – einer Wahrscheinlichkeit, die aus zurückliegenden Ereignissen berechnet wird. Anhand einer großen Stichprobe kann man – entsprechend dem Gesetz der großen Zahlen – die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen aller Art berechnen: Wer wirdwann krank, wer stirbt wann und so weiter, mit der gewünschten Genauigkeit. Allerdings«, hier macht Philip eine bedeutsame Pause, »empfehle ich dringend, wachsam zu bleiben … Wahrscheinlichkeiten können einen ziemlich in die Irre führen. Rechnen Sie stets mit dem Unerwarteten. Mit einem Ereignis, das niemand vorhergesehen hat – eine Epidemie, einen Tsunami –, ein Ereignis, das alles über den Haufen wirft.
Lassen Sie es mich mit dem bekannten Beispiel vom Truthahn erläutern – die Engländer erklären es eher mit einem Huhn«, sagt Philip lächelnd. »Stellen Sie sich einen Truthahn vor, einen Truthahn, der jeden Morgen gefüttert wird, sagen wir, ein Jahr lang. Der Truthahn gewöhnt sich daran. Er gewöhnt sich so sehr daran, dass er ganz selbstverständlich erwartet, dass jeden Morgen um eine bestimmte Uhrzeit jemand kommt und ihn füttert. Doch eines Morgens« – Philip lacht – »etwa eine Woche vor Thanksgiving, kommt die Person, die den Truthahn jeden Morgen zur selben Zeit gefüttert hat, und dreht ihm den Hals um.
Wie Sie sehen«, – das gesamte Seminar lacht – »kann jederzeit etwas Unerwartetes geschehen, das unsere bisherigen Überzeugungen und das Vertrauen darauf, dass alles so bleibt wie in der Vergangenheit, komplett über den Haufen wirft. Das führt uns zu der Frage, wie wir überhaupt anhand unseres Wissens über die Vergangenheit auf die Zukunft schließen können. Wichtige Fragen, über die Sie unbedingt nachdenken sollten.«
Philips Studenten erheben sich von ihren Plätzen und applaudieren.
Im Café in Paris schaut sie Philip nicht ins Gesicht; sie schaut auf seinen Hals. Aus dem offenen Kragen seines blauen Hemds lugt ein Büschel dunkles Brusthaar hervor.
Ihr Herz schlägt wie wild.
Einen kurzen Augenblick fragt sie sich sogar, so unwahrscheinlich das auch ist, ob sie gerade einen Herzanfall erleidet.
Oder ob sie krank wird – richtig krank.
Sie runzelt die Stirn und wendet den Blick ab. Blonde Männer findet sie viel attraktiver als dunkle, stark behaarte.
Als könnte er ihre Gedanken lesen, hebt er eine Hand zum Kragen und knöpft ihn zu. Dann streckt er ihr die Hand entgegen und sagt: Ich heiße Philip.
Im Schlafzimmer wird es hell.
Es ist die Stunde vor dem Morgengrauen, die Römer nannten sie die Wolfsstunde. Die Stunde, in der Dämonen besonders viel Macht haben, in der die meisten Menschen sterben und die meisten Kinder zur Welt kommen. Die Stunde, in der die Menschen von Alpträumen heimgesucht werden.
L’heure bleue .
Sie hört ein Geräusch im Schlafzimmer – etwas ist umgefallen –, Nina öffnet die Augen. Der Stuhl an der Tür, auf den sie ihren beigen Kaschmirpullover gelegt hat, ist umgekippt. Jemand ist ins Zimmer gekommen.
Ein Engel.
Der Engel schlägt mit seinen großen Flügeln.
Das Geräusch, das er macht, klingt wie das Schlagen und Reißen der Segel auf der Hypatia bei starkem Wind.
Der Engel ist ihr vertraut.
Er hat dasselbe lockige rote Haar und die schwarzen Flügel und er trägt denselben weißen Stoffwirbel wie der Engel in Caravaggios Rast auf der Flucht nach Ägypten , das Gemälde, das sie so beeindruckt hat. Damals konnte sie sich nicht davon losreißen, ohne erklären zu können warum, und Philip wurde ungeduldig. Das Bild, sagte er, sei ihm zu kitschig, er ziehe den Realismus von zwei anderen Bildern Caravaggios vor, die er in einer Kapelle der Santa Maria del Popolo gesehen habe. Aber auf dem Weg vom Palazzo Doria Pamphili zum Restaurant wurde Philips Brieftasche gestohlen. Erst nachdem sie gegessen hatten und bezahlen wollten, bemerkte er den Verlust.
Der Engel kommt näher
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