Das Glück wartet in Virgin River
eine Toilette zu suchen, sank Jillian wieder auf ihren Verandastuhl. Kelly setzte sich auf die Treppe und sah zu ihrer Schwester hoch. „Du wirkst ein bisschen verstimmt, Jill. Träumst du davon, wieder zu Kurt, dem Wundervollen, zurückzukehren?“
Jillian seufzte. „Eigentlich habe ich eher in Erinnerungen geschwelgt. Woran denkst du, wenn du dieses Haus hier siehst?“
Kelly schüttelte den Kopf. „Kann ich nicht sagen.“
„Nanas Haus.“
„Oh, bitte … das Haus ist riesig! Nanas Haus würde hier wahrscheinlich dreimal hineinpassen.“
„Aber als wir fünf und sechs Jahre alt waren, kam es uns doch vor wie ein Schloss, nicht wahr? Oder wie ein Herrenhaus? Ich bedaure noch immer, dass wir es aufgegeben haben, und würde alles dafür geben, wenn wir es noch hätten und das alte Haus besuchen könnten.“
„Hm, und wann würde denn auch nur eine von uns dort hinfahren? Wir arbeiten doch beide die ganze Zeit …“
„Ich weiß. Du hast recht. Ich vermisse es einfach.“
Tatsächlich dachte Jillian oft an die Zeit, die sie als Kinder dort verbracht hatten.
Als die beiden Schwestern fünf und sechs Jahre alt waren, hatte es einen Unfall gegeben, bei dem sie ihren Vater verloren hatten. Ihre Mutter war anschließend für den Rest ihres Lebens an den Rollstuhl gefesselt. Damals waren sie zur Großmutter ihres Vaters gezogen, eine Witwe, die mit siebzig Jahren auf einmal zwei kleine Kinder erbte und zur Vollzeitpflegerin avancierte. In einer Zeit, die für die Kinder die dunkelste in ihrem jungen Leben gewesen sein musste, hatte Nana ihnen den Auftrieb gegeben, den sie brauchten. Sie sagte ihnen, dass sie hart arbeitenmüssten, um ihrer Mama zu helfen, sich um Haus und Garten zu kümmern, gute Nachbarinnen zu sein und gute Schülerinnen. Aber das wäre okay, weil sie sich aus der Arbeit einen Spaß machen würden. So wurde aus jeder Hausarbeit ein Spiel, aus jeder Herausforderung ein Wettbewerb. Sie übernahm ihre Erziehung und zeigte ihnen das Beste, was ihre Küche und ihr Garten zu bieten hatten. Als französisch-russische Immigrantin hatte Nana nur eine oberflächliche formale Ausbildung genossen, aber sie beherrschte fünf Sprachen. Daher brachte sie ihnen auch das Lesen bei, sodass sie abwechselnd ihrer Mutter vorlesen konnten.
„Erinnert es dich denn nicht an Nanas Haus mit dem Garten?“, wiederholte Jillian ihre Frage.
„Na gut, Nanas Haus auf Anabolika“, meinte Kelly. „Aber einmal abgesehen von Mom und Nana, was genau vermisst du daran?“
Jillian zuckte mit den Schultern. „Was wir damals durchgemacht haben, muss wirklich schwer gewesen sein, aber mir kommt es vor, es wäre alles leichter gewesen als heute. Einfacher.“
„Ärmer. Sehr viel ärmer …“
Jillian lachte. „Aber wir haben gelernt, wie man Geld macht, richtig? Das ist etwas, was Nana nie hatte.“
„Genau das, was ich an ihrem Leben verändert hätte, wenn ich es gekonnt hätte.“
Aber als sie neunzig und ihre Mutter bereits einige Jahre tot war, hatte ihre Nana aus dem großen alten Haus ausziehen müssen. Die Treppe war zu viel für sie, dennoch konnte man sich nicht darauf verlassen, dass sie sie nicht benutzte. In einer Anlage für betreutes Wohnen fanden sie ein gemütliches Parterreapartment für sie, das sie selbst bezahlten, obwohl sie damals erst fünfundzwanzig und sechsundzwanzig Jahre alt waren. Und Nana hatte es gehasst . „Lieber würde ich mich in meinem Haus aufs Erdgeschoss beschränken, als in dieser Toilette mit Regalen zu wohnen!“, hatte sie sich beschwert. „Hier haben sie Zement auf den Garten geworfen!“
Mit vierundneunzig war sie schließlich im Schlaf gestorben.Das war jetzt gerade zwei Jahre her. Die Schwestern hatten das Haus nicht aufgegeben, solange sie noch gelebt hatte.
„Es wird Zeit, dass ich in die Zivilisation zurückkehre“, sagte Jillian. „Mir fällt langsam wieder ein, dass es mit Sicherheit die schwerste Zeit meines Lebens war, auch wenn es noch so schön und unkompliziert gewesen sein mag.“
Kelly lachte ein wenig zynisch. „So wie wir beide schuften, glaube ich kaum, dass ich dir widersprechen kann, was unsere schöne Kindheit angeht, und wir waren beide zu jung, um die Probleme ganz zu erfassen. Aber da führt kein Weg zurück, Jill, deshalb lass uns diese Zeit lieber in guter Erinnerung behalten und wieder in unseren Betondschungel zurückkehren.“ Sie holte tief Luft. „Ich war jetzt fast zehn Tage aus der Küche weg. Inzwischen hat Durant meine Stelle
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