Das goldene Bett/Aphrodite ist an allem schuld
Atmosphäre mit Hochspannung geladen. Und
nicht nur die Atmosphäre. Auch die Anwesenden. Wer zum Beispiel Frau Annegret
Radke in diesem Moment berühren würde, bekäme einen Schlag von etwa 220 Volt.
Sie sitzt steil aufgerichtet in der Sitzecke aus Schweinsleder und klopft mit
ihrer Stielbrille kurze harte Wirbel auf ihre Handtasche. Mir vorgerecktem Hals
äugt sie nach dem am Kopfende der Tafel sitzenden Notar, der in seinen Akten
herumblättert.
»Der macht mich noch wahnsinnig
mit seinem Geblätter«, flüstert sie ihrer Tochter Erika zu.
»Rauch noch eine, Mamusch«,
sagt Erika und zückt ihr Zigarettenetui.
»Nein, danke. Und du, du
solltest auch nicht soviel rauchen.«
»Ich rauche soviel, wie es mir
paßt!« Erika nimmt sich demonstrativ eine Zigarette und zündet sie an. Ihre
Hand zittert dabei, und sie zieht den Rauch so heftig in ihre Lungen, als habe
sie seit Stunden auf diesen Augenblick gewartet.
Sie schaut Trixi an, die ihr
gegenübersitzt, und denkt: Das kleine Schwarze macht sie auch nicht gerade
dünner, aber blühend sieht sie aus, blühend und zufrieden, die Ehe scheint ihr
zu bekommen, die Ehe und das Baby, ein Tempo hatte die vorgelegt.
»Wir haben uns noch gar nicht
richtig gesprochen«, sagt Trixi, die den Blick gemerkt hat, »wie geht’s dir
denn so, Kusinchen, alles okay?«
»Warum soll denn nicht alles
okay sein. Wie meinst du das überhaupt?« Erika beißt sich auf die Lippen. Sie
spürt, wie ihr die Tränen aufsteigen. Warum rege ich mich eigentlich so auf,
was ist bloß mit mir los in letzter Zeit, immer muß ich gleich heulen,
»‘tschuldigung, Trixi«, sagt sie und bietet jetzt auch der Kusine eine
Zigarette an.
»Danke, lieb von dir, aber
stell dir vor, ich hab’s mir abgewöhnt. René meint, es schadet meinem Teint.«
Sie lacht und zeigt auf ihr Glas mit Sherry, das der Butler ihr vorhin serviert
hat. »Lieber ab und zu ein Schlückchen, das ist gesünder. Meint René.«
»Na, und die Kalorien?« fragt
Erika, weil sie nur noch in Kalorien denken kann.
»Die Kalorien, ach du lieber
Himmel...« Trixi lacht wieder und will zu einer längeren Erklärung ansetzen,
sie kommt aber nicht dazu, weil der Notar mit dem Bleistift auf die Tischplatte
klopft. Der Notar sieht immer noch so aus, als mache er heimlich für uralten
Whisky Reklame, und wenn er spricht, hat man immer noch das Gefühl, als spreche
er chinesisch. Er »konstatiert die Präsenz der von der Erblasserin
herbeigewünschten Erbberechtigten«, er zitiert den Paragraphen 24 36 Strich
römisch 3 des allgemeinen Erbrechts und jongliert mit »gewillkürten Erben«,
»Erbverzichtsvertragsanfechtung« und »Ersatzerbeinsetzung«.
Bevor jemand deswegen ein
Attentat auf ihn verüben kann, wird er verständlicher. Er wechselt ein paar
Worte mit James P. Stutterbold, der rechts neben ihm sitzt, und mit dem
Dolmetscher, der links neben ihm sitzt, und fährt fort: »...Darf ich nun noch
einmal auf die Zusatzklausel im Anhang zwo des Testaments hinweisen, die ich
vor Jahresfrist an diesem Ort anläßlich der Testamentseröffnung verlesen hatte.
Diese Klausel lautet...«
Er macht eine Kunstpause und
versucht, bedeutend auszuschauen. »Ich, Verena Hold,— so im Wortlaut der
Klausel— vermache mein Barvermögen in Höhe von fünf Millionen
achthundertvierundsiebzigtausend Dollar und zweiundsechzig Cent derjenigen
unter den weiblichen Mitgliedern meiner Verwandtschaft, die das verkörpert,
worum ich mein Leben lang bemüht war: Schönheit und Harmonie! Die Voraussetzung
dazu ist Schlankheit. Und Schlankheit war für mich immer verbunden mit der
magischen Dreizahl 90— 60— 90. Überschreiten die Erbberechtigten diese Körpermaße,
so erhalten sie ein Jahr Zeit, sie zu erreichen.«
Stutterbold erhebt sich. Seine
Stunde ist gekommen. Er hüstelt, weist auf den Protokollführer: »Laut Protokoll
hat keine der damals anwesenden erbberechtigten Damen das verlangte Idealmaß
gebracht. Wir schreiten deshalb jetzt zur Prüfung, ob das abgelaufene Jahr in
diesem Sinn genützt wurde. Darf ich bitten?«
»Nach dir«, sagt Trixi zu
Erika.
»Nach dir, du bist die ältere«,
sagt Erika zu Trixi.
Trixi zuckt ergeben mit den
Achseln, steht auf und folgt der Hausdame, als sei sie das Jüngste Gericht.
Schweigen herrscht, nachdem
sich die Tür hinter den beiden geschlossen hat. Frau Radke kneift ein Auge zu
und blinzelt ihre Tochter an. Am liebsten würde sie zwei Finger der rechten
Hand zu einem großen »V« spreizen, zum Zeichen des
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