Banalverkehr - Roman
Intro: Montag, 15.45 Uhr – Der Stuhlkreis, Teil 1
Die Stühle sind hart und eine durchaus treffende hölzerne Metapher für die Gesamtsituation. Ich hasse Stuhlkreise, schon seit dem Kindergarten. Sie haben rein gar nichts mit irgendeinem pädagogischen Wert zu tun, sondern einfach nur mit Langeweile. Hier, von wegen Wir-Gefühl erschaffen und so ein Scheiß. Langweilig. Langweilig, langweilig, langweilig.
Und diese ganzen Gesichter. So viele Erwartungen. Hoffnungen. Dankbarkeit, endlich einen Ort gefunden zu haben, an dem man sich aussprechen kann. Auch langweilig. Im Gegensatz zu den anderen Frauen bin ich deswegen nicht hier. Ich hab mich ausgesprochen. Und zwar so was von. Nein, ich bin hier, weil ich nach etwas suche. Verzweifelt, durchaus möglich, wahrscheinlich sogar, denn sonst würde ich diese Sitzordnung überhaupt erst gar nicht auf mich nehmen.
»Schön, dass ihr alle gekommen seid.« Um ehrlich zu sein, hatte ich auch gehofft, dass es hier wenigstens Kuchen gäbe. Im Fernsehen gibt es bei Stuhlkreisveranstaltungen immer was zu essen.
»Ich schlage vor, ihr stellt euch jetzt mal der Reihe nach kurz vor und erzählt ein bisschen über euch. Wie es kommt, dass ihr hier seid, wie es euch so geht. Einfach mal frisch und frei von der Leber weg, was euch so einfällt.«
Das mit der Leber wäre natürlich einfacher, wenn man ihr etwas zu tun gäbe. Ich denke da an Alkohol. Genau. Kuchen und Alkohol, und zumindest ich wäre hier sehr leberfrei.
»Am besten fängst du einfach mal an«, sagt die Stuhlkreischefin zu der jungen Frau neben mir, der vermutlich einzigen, die das harte Holz unter ihrem Hintern nicht weiter stört, denn sie hat so viel fettes, weiches Fleisch um den Steiß herum, dass man sagen könnte, sie hätte ihr Sitzkissen quasi schon dabei. Sie hat ein nettes Gesicht, ohne Zweifel, doch scheinbar hat sie sich in der letzten Zeit viele Sorgen gemacht, und dadurch wirkt es ein bisschen zerknautscht. Sie erinnert mich an diese komischen Faltenhunde, bei denen man sich nie entscheiden kann, ob man sie niedlich finden oder einfach nur bemitleiden soll. Sorry, fette Frau.
»Ich weiß jetzt auch nicht. Wie soll ich denn anfangen?«
So viel zum Thema Frisch und frei von der Leber weg . Mit Alkohol wären wir schon weiter, aber auf mich hört ja keiner.
»Also«, beginnt die Chefin noch einmal zu erklären, passenderweise so geduldig wie eine Kindergartentante: Welcome to the Stuhlkreis, blabla. Wer bist du? Was machst du hier und überhaupt? Leber frisch, Leber frei … Ich gähne. Laut. Und wäre sehr froh, wenn wir jetzt endlich mal anfangen könnten. Ich sage nur: Holzstühle, Orthopäde, Kassenpatient. Das scheint jetzt auch endlich meiner Nachbarin zu dämmern. Sie sei da einfach so reingerutscht, sagt sie. Kollektives Kopfnicken. Ich gähne nochmal. Reingerutscht sind wir hier doch wahrscheinlich alle so irgendwie. Zugegeben – ich bin mit voller Absicht gerutscht und hatte auch noch Spaß dabei. Wie ein Kind, das sich auf einem Spielplatz austobt. Immer wieder rauf auf die Rutsche und – hui! Bis ich irgendwann mal gemerkt habe, dass die Rutsche zu Ende ist und ich immer noch weiter rutsche. Mit dem blanken Arsch über den Asphalt.
»Angefangen hat es vor ungefähr zwei Jahren, als ich im Urlaub meinen Freund kennengelernt habe. Und ich muss dazu sagen, ich war damals noch ein ganz anderer Mensch.«
Dito. Hätte ich mich vor zwei Jahren hierher verirrt, hätten sie mir wahrscheinlich nach drei Minuten gleich wieder den Stuhl unterm Arsch weggezogen. Wie bei der Reise nach Jerusalem.
»Damals war ich eigentlich immer nur unterwegs. Partys, Clubs und lange Nächte.«
Die Fette und ich verstehen uns. Vor zwei Jahren: Puppe Stockmann 1.0. Nicht wie heute stuhlkreistauglich in H&M , sondern schön in D&G mit viel Blingbling. Falsche Haare, falsche Fingernägel, Zähne, die so weiß gebleicht waren, dass, wenn ich nachts grinsend in meinem Auto eine Straße entlanggefahren bin, die mir entgegenkommenden Fahrer aufgeblinkt und geschrien haben: »Mach das Fernlicht aus, du Sau!«
»Ohne Make-up und die richtigen Klamotten fühlte ich mich total nackt.«
500 Euro im Monat an Restaurationskosten. Weil wir es uns wert sind . Waren. Wie auch immer. Geizig war ich wirklich nie. Nicht nur, wenn es um mich selbst ging. Das indische Patenkind, das man mir in der Fußgängerzone aufgeschwatzt hat (heißt Hanuta oder so), hat auch jedes Jahr regelmäßig seine fünf Euro per Überweisung
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