Das große Buch der Lebenskunst
unterscheidet im Einklang mit der
griechischen Philosophie drei Bereiche im Menschen, den begehrlichen, den emotionalen und den geistigen Bereich. Und jedem Bereich ordnet er drei
Leidenschaften zu, die zunächst wertfrei sind, die aber auch zu Lastern werden können, wenn der Mensch nicht bewusst und achtsam mit ihnen umgeht.
Der begehrliche Teil, von dem Evagrius spricht, entspricht in der Analyse Mohammeds der Gier. Die Gier kann sich beziehen auf das Essen (Völlerei), auf
die Sexualität (Unzucht) und auf den Besitz (Habgier). Der Gierige kann nicht genießen, weder das Essen noch die Sexualität, noch den Besitz. Er muss
immer mehr in sich hineinschlingen, um seine innere Leere zu verdecken. Er braucht immer neue sexuelle Kontakte, um in seiner Erstarrung überhaupt etwas
Lebendigkeit zu spüren. Und er wird vom Besitz besessen. Er kann sich nicht ausruhen, sondern wird dazugetrieben, immer noch mehr zu
besitzen, anstatt das, was er hat, zu genießen und sich daran zu freuen.
Im emotionalen Bereich unterscheidet Evagrius zwischen Traurigkeit, Zorn und akedia (Lustlosigkeit, Trägheit). Aber alle drei emotionalen
Fehlhaltungen haben letztlich mit dem unbewältigten Zorn zu tun. Aggression kann ja auch eine positive Kraft sein. Doch wenn ich sie in mich hineinfresse,
wird sie entweder zur Depression (Traurigkeit, Selbstmitleid) oder zum Groll und zur Bitterkeit. Oder aber sie lässt mich nicht zur Ruhe kommen (akedia). Sie treibt mich hierher und dorthin, weil ich nicht weiß, wie ich mit der Energie meiner Aggression auf angemessene Weise umgehen
kann.
Im geistigen Bereich nennt Evagrius als die drei Gefährdungen des Menschen: Ruhmsucht, Neid und Hybris.
Mohammed fasst diese drei Laster in das der Selbstüberschätzung zusammen. Wer sich selbst überschätzt, der lebt an sich vorbei, der zerstört sich
selbst. Er weigert sich, seine Wirklichkeit anzuschauen und anzunehmen. Die Selbstüberschätzung wird dazu führen, dass er irgendwann einmal vom Podest
seines hohen Selbstbildes abstürzt und zugrunde geht.
Begegne dir selbst
B egegne dir selbst – dies ist eine der wichtigsten Aufgaben für alle, die auf dem inneren Weg sind. Für
die alten Mönche war die Bedingung für die Gottesbegegnung die Begegnung mit sich selbst und die Erkenntnis seiner selbst. »Willst du Gott erkennen, lerne
vorher dich selber kennen.« Wer sich selbst nicht erkennt, der wird seine unbewussten Wünsche und Sehnsüchte, seine verdrängten Bedürfnisse auf Gott
projizieren. Und so betet er seine eigenen Bilder an und berührt nicht den wahren Gott, der immer der ganz andere ist. Die Selbsterkenntnis befreit uns
von den eigenen Illusionen, und dadurch ermöglicht sie uns einen klaren und unbefangenen Blick auf diese ganz andere Realität. Gott bleibt dann nicht mehr
ein Bild der Seele, sondern er erscheint als der wirkliche, der uns gegenübertritt.
Es ist eine alte Einsicht, dass das geistliche Leben vor allem darin besteht, mit den Leidenschaften der Seele richtig umzugehen, von der Herrschaft
der von Emotionen geprägten Gedanken loszukommen und in den Zustand der inneren Freiheit zu gelangen. Dabei geht es immer wieder darum, die Gefühle nicht
zu bewerten, sondern sie einfach zuzulassen und anzuschauen. Und darauf kommt es auch immer wieder neu an: einen Dialog mit meinen Gefühlen und
Leidenschaften zu führen, um die positive Kraft, die darin steckt, für mein inneres Leben fruchtbar zu machen. Nur wenn die Gefühle angeschaut und
zugelassen werden, kann das geistliche Leben strömen. Das zeigt uns übrigens auch unser Atem, der eine integrative Struktur hat, sofern er in seinem
Strömen Kopf, Herz und Bauch, Verstand, Gefühl und Vitalität verbindet, und der in seiner Dynamik auf den Weg menschlicher Selbstwerdung verweist: im
Annehmen, Loslassen, Einswerden und Neuwerden – das wir im Fluss des Atmens immer wieder neu erfahren.
Gestalte dein eigenes Leben
J eder darf sich selber die Frage stellen: Woraus schöpfst du? Was sind deine Wurzeln? Was prägt dein
Denken und Fühlen? Und auch dieser positive Impuls kann im Leben jedes Einzelnen weiterwirken: Schaue dankbar auf das zurück, was du von den Menschen
hast, die vor dir waren, von Ideen, die andere in diese Welt bringen. Auch durch dich selber will Neues aufleuchten. Gott ist der ewig Neue. Er hat auch
mit dir einen neuen Anfang gesetzt. Er will durch dich neue Worte, neue Gedanken, neue Lösungen in diese Welt
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