Vertrau mir, Tara
1. KAPITEL
Als der Summton der Gegensprechanlage ertönte, drückte Tara Lyndon auf die Taste, ohne den Blick vom Bildschirm ihres Computers zu wenden.
“Janet?” Ihre Stimme klang freundlich, wenn auch leicht angespannt. “Ich hatte Sie doch gebeten, mich nicht zu stören.”
“Es tut mir leid, Miss Lyndon”, antwortete ihre Sekretärin reumütig. “Aber Ihre Schwester ist am Apparat. Sie lässt sich nicht abwimmeln.”
Ja, das kenne ich, dachte Tara und seufzte. Sie ahnte, was Becky wollte.
“Okay, Janet, stellen Sie sie durch.”
“Liebes”, begrüßte Becky sie munter. “Wie geht es dir? Ist das nicht ein herrliches Wetter?”
“Mir und dem Wetter geht es gut”, erwiderte Tara spöttisch. “Becky, ich habe überhaupt keine Zeit. Kannst du dich kurzfassen, bitte?”
“Kein Problem. Ich wollte mich nur wegen des Wochenendes vergewissern. Ich weiß nicht mehr genau, was wir abgemacht haben.”
“Die Sache ist doch völlig klar”, stellte Tara geduldig fest. “Du hast mich nach Hartside eingeladen, und ich kann nicht kommen.”
“Und ich habe dich gebeten, es dir noch einmal zu überlegen. Hast du es getan?”
Tara schloss sekundenlang die Augen. “Becky, es ist nett von dir, dass du dich so bemühst. Ich habe jedoch etwas anderes vor.”
“Ach wirklich? Musst du Bewerber interviewen?”
“Nein”, antwortete Tara. “Ich will ausspannen und fahre weg.”
“Bei uns kannst du dich auch entspannen”, wandte Becky ein. “Die Kinder fragen ständig nach dir.”
“Unsinn”, entgegnete Tara ziemlich schroff. “Giles und Emma würden mich sowieso nicht mehr erkennen.”
“Genau das meine ich ja. Du bist so sehr mit deinem Beruf und deiner Karriere beschäftigt, dass du keine Zeit mehr für deine Familie hast. Gerade jetzt, da Mum und Dad am anderen Ende der Welt sind, vermisse ich dich ganz besonders.”
Becky seufzte so pathetisch, dass Tara beinahe darauf hereingefallen wäre. Doch dann erinnerte sie sich an Beckys Mann Harry, der seine Frau liebevoll umsorgte. Außerdem hatte sie ihre lebhaften Kinder und ihre Schwiegereltern. Wenn sich ihre Schwester auch nur einen einzigen Moment einsam fühlte, war sie selbst schuld.
“Liebes, du bist schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr bei uns gewesen. Zwei Tage hast du doch sicher Zeit für mich”, fuhr Becky eindringlich fort.
“Wenn ich euch wirklich besuchen würde”, erwiderte Tara langsam, “könntest du mir dann versprechen, dass du nicht wieder so einen armen Kerl einlädst, mit dem du mich verkuppeln willst?”
“Du liebe Zeit, ich habe dich längst als hoffnungslosen Fall abgeschrieben. Du bist viel zu misstrauisch.”
“Dafür habe ich gute Gründe. Wer ist es denn dieses Mal?”
“Es kommt noch so weit, dass ich keinen neuen Nachbarn mehr auf einen Drink einladen kann, ohne dass du gleich Verdacht schöpfst”, beschwerte sich Becky.
“Wer ist es?”, wiederholte Tara.
Becky seufzte. “Er ist gerade ins Glebe-Cottage neben der Kirche eingezogen. Er ist Steuerberater, Mitte dreißig und sehr attraktiv.”
“Und immer noch Single? Welchen Haken hat die Sache?”
“Gar keinen. Es sind sehr nette Leute.”
“Er lebt nicht allein?”
“Na ja”, gab Becky zögernd zu, “seine Mutter wohnt momentan bei ihm und hilft ihm beim Einrichten.”
“Ah ja.” Tara schmunzelte. “Er ist Mitte dreißig und lebt immer noch mit seiner Mutter zusammen.”
“Nein, nur vorübergehend. Sie hat selbst ein schönes Haus und wünscht sich, dass er endlich die richtige Frau kennenlernt.”
“Das kann ich mir vorstellen. Wahrscheinlich hat sie den vergifteten Dolch schon bereitliegen und wartet nur noch auf den richtigen Moment, um zuzustoßen.”
“Deine Arbeit tut dir offenbar nicht gut. Du bist ja richtig zynisch geworden”, stellte Becky fest.
“Jedenfalls habe ich dadurch gelernt, hinter die Fassaden der Menschen zu blicken”, räumte Tara ein. “Aber egal, ich ändere meine Pläne nicht und verbringe das Wochenende so, wie ich es mir vorgestellt habe.” Und die beiden nächsten Wochen auch, fügte sie insgeheim hinzu.
“Allein?”
Die Frage traf Tara an ihrer empfindlichen Stelle. “Nicht unbedingt”, erwiderte sie deshalb ausweichend.
“Tara”, rief Becky aus, “hast du wirklich jemanden kennengelernt? Erzähl mal!”
“Nein.” Tara bereute die Notlüge schon wieder. “Es gibt nichts zu erzählen. Zumindest jetzt noch nicht.” Das stimmt ja auch, sagte sie sich, wie um ihr Gewissen zu
Weitere Kostenlose Bücher