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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Erstes Kapitel
    D itis Schrein verbarg sich in einer Felswand, in einem entlegenen Zipfel von Mauritius, wo die West- und die Südküste der Insel aufeinanderstoßen und den windgepeitschten Bergstock Morne Brabant hervorbringen. Der Ort war eine geologische Besonderheit – eine Höhle, von Wind und Wasser in den Kalkstein gegraben; etwas Ähnliches gab es nirgendwo sonst auf dem Berg. Später sollte Diti behaupten, dass nicht der Zufall, sondern das Schicksal sie dorthin geführt habe –, denn man konnte sich nicht vorstellen, dass der Ort tatsächlich existierte, solange man ihn nicht betreten hatte.
    Die Colver-Farm lag am anderen Ende der Bucht, und im hohen Alter, als ihre Knie schon steif von der Arthrose waren, konnte Diti die Höhle nur noch aufsuchen, wenn sie in ihrem pus-pus, einer Art Sänfte, hinaufgetragen wurde. Der Besuch des Schreins war deshalb stets eine regelrechte Expedition, an der etliche männliche Mitglieder der Familie Colver teilnehmen mussten, vor allem die jüngeren und kräftigeren.
    Den ganzen Clan zu versammeln – La Famie Colver, wie sie auf Kreolisch hieß – war nicht leicht, da seine Angehörigen weit verstreut lebten, sowohl auf der Insel als auch im Ausland. Einmal im Jahr aber, im Hochsommer, während der großen Ferien, die dem Neujahrsfest vorausgingen, konnte man sich darauf verlassen, dass sich jeder bemühen würde zu kommen. Die Famie fing Mitte Dezember an zu mobilisieren, und zu Beginn der Feiertage war der ganze Clan auf den Beinen. Begleitet von ganzen Trupps aus Schwagern, Schwägerinnen, Schwiegervätern, Schwiegermüttern und anderen angeheirateten Verwandten, bewegten sich die Colver’schen Schlachtreihen in einer gigantischen Zangenbewegung konzentrisch auf die Farm zu: Einige kamen auf Ochsenkarren über das neblige Hochland, aus Curepipe und Quatre Bornes, andere reisten per Schiff an, aus Port Louis und Mahébourg, dicht an der Küste entlang, bis der nebelverhangene Nippel des Morne in Sicht kam.
    Vieles hing vom Wetter ab, denn man konnte den windumtosten Berg nur an einem schönen Tag besteigen. Wenn die Bedingungen günstig schienen, begannen die Vorbereitungen dazu schon am Vorabend. Das Festmahl, das auf die puja folgte, war stets der am ungeduldigsten erwartete Teil der Pilgerfahrt, und schon die Vorbereitungen waren von großer Begeisterung und freudiger Erwartung begleitet: Der mit einem Blechdach gedeckte Bungalow hallte wider von Hackmessern, Mörsern und Nudelhölzern, während masalas gemahlen, Chutneys abgeschmeckt und Berge von Gemüse zu Füllungen für parathas und daalpuris verarbeitet wurden. Wenn die Speisen in Blechbehältern und Vorratsschränken verstaut waren, gingen alle frühzeitig ins Bett.
    Bei Tagesanbruch sorgte Diti höchstpersönlich dafür, dass alle sich schrubbten und badeten und keinem auch nur der kleinste Bissen zwischen die Zähne kam, denn wie alle Pilgerfahrten musste auch diese mit einem äußerlich wie innerlich reinen Körper unternommen werden. Diti stand stets als Erste auf, tappte, den Stock in der Hand, über den Holzfußboden des Bungalows und posaunte einen Weckruf, in der eigenartigen Mischung aus Bhojpuri und Kreol, die zu ihrem persönlichen Idiom geworden war: »Revey-té! É Banwari; éMukhpyari! Revey-té na! Haglé ba?«
    Bis die ganze Sippe aus dem Bett und auf den Beinen war, erhellte die Sonne bereits die Wolken, die den Gipfel des Morne verhüllten. Diti übernahm die Führung in einer Pferdekutsche, und die Prozession rumpelte aus der Farm hinaus, durch die Tore und den Hügel hinab zu der Landbrücke, die den Berg mit dem Rest der Insel verband. Weiter kamen die Fahrzeuge nicht, deshalb stiegen hier alle aus. Diti nahm in ihrem pus-pus Platz, und die jüngeren Männer wechselten sich an den Stangen ab und trugen so den Sessel durch das dichte Grün der unteren Hänge bergan.
    Unmittelbar vor dem letzten, steilsten Teil des Anstiegs tat sich eine willkommene Lichtung auf, und hier blieben alle stehen, nicht nur, um Atem zu schöpfen, sondern auch, um lautstark die großartige Aussicht auf den Dschungel und den Berg zu bewundern, der zwischen zwei sandgesäumten, fein geschwungenen Küstenlinien aufragte.
    Diti war als Einzige nicht von der Aussicht beeindruckt. Nach wenigen Minuten schon fuhr sie einen nach dem anderen an: »Levé té! Wir sind nicht hier, um die soly vi zu bestaunen und den ganzen Tag patati-patata zu machen. Paditu! Chal!«
    Sich zu beklagen, dass man gidigidi im Kopf sei oder

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